Der silberne Sinn
ist viel geschehen, Opa Carl.« Yeremi ließ ihn stehen und ging weiter den Kiesweg entlang. Sie wollte Zeit zum Ordnen ihrer Gedanken gewinnen.
Also gut, sie stammte aus einer Familie, die immer wieder mit wundersamen Gaben in Verbindung gebracht worden war. Als Nachfahre eines so genannten Wunderrabbis hatte Hanussen sich höheren Sphären verbunden gefühlt, im Gegensatz zu Carl, der dieser Versuchung nie erlegen war. Seine Charakterfestigkeit wusste Yeremi durchaus zu schätzen, denn sie hielt den Okkultismus keineswegs für einen harmlosen Zeitvertreib. Was in der westlichen Welt zunehmend als unterhaltsamer Nervenkitzel angesehen wurde, barg, wie sie aus der Fachliteratur wusste, Gefahren, die keinesfalls unterschätzt werden durften, schon weil die Szene allen möglichen Abartigkeiten frönte. Betroffene berichteten von unvorstellbaren Qualen, die sie erlitten hätten: Stimmen, Albträume, Bedrohungen. Manche seien von anderen Satanisten seelisch und körperlich gefoltert worden, als sie versuchten auszusteigen. Blutige Rituale und furchtbare Gräueltaten waren symptomatisch für die Szene. Viele junge Leute gerieten aus Neugier in den Bann der dunklen Geheimlehren und kamen später nur schwer wieder davon los. In einer Erhebung unter Lehrern hatten ein Viertel der Befragten bei ihren Schülern durch Okkultismus hervorgerufene Störungen bemerkt: Lernschwierigkeiten, Ängste, Depressionen, der Rückzug von Alltagsaufgaben und eine Neigung zu Fremd- und Selbstschädigungen bis hin zum Suizid. Was immer hinter den übernatürlichen Erscheinungen und außersinnlichen Wahrnehmungen steckte, durfte nicht bagatellisiert werden. Es war höchst gefährlich.
Ungeachtet dessen hielt Yeremi den Menschen bei weitem nicht für ein restlos erforschtes Geschöpf. Er dürfte die Wissenschaftler noch mit so manchem Wunder überraschen. Während Carl sie langsam einholte, fragte sie sich, ob es in ihrer Familie so etwas wie eine erbliche Prädisposition geben könnte, die sie für Sarafs Gefühlsspielerei besonders empfänglich machte. Yeremi erinnerte sich noch lebhaft an seine Antwort auf die Frage, warum er sie für etwas Besonderes halte: »Weil du es bist.« Weshalb hatte er ihr fast von Anfang an so rückhaltlos vertraut? Etwa weil er wusste, wie er sie in seinem Sinne lenken konnte? Auch ihr Vater hatte sich einst von Jim Jones manipulieren lassen, obwohl er, wie Carl und Fredrika immer wieder betonten, alles andere als ein leichtgläubiger Mensch gewesen war. Yeremi nickte unmerklich. In ihrem Kopf formte sich eine erschreckende und zugleich aufregende Theorie.
Vielleicht gab es in ihrer Familie eine besondere Sensibilität, deren Natur sie erst noch ergründen musste. Hanussen hatte diese Empfindsamkeit missbraucht und war schließlich daran gescheitert – wenn er wirklich der machtbesessene, lüsterne und anmaßende Mensch war, als den ihn Carl beschrieben hatte. Richtiger wäre es gewesen, seine Veranlagung für das Gute einzusetzen. Es war ein erhebender Gedanke, fast märchenhaft wie aus Tausendundeiner Nacht, aber Yeremi glaubte darin einen Hoffnungsfunken aufblitzen zu sehen, vor dem sie ihre Augen nicht verschließen durfte. Zu lange schon hatte sie sich aus Angst vor Manipulation einfach nur abgeschüttet, war in die Einsamkeit geflohen, die sie wissenschaftliche Arbeit nannte.
Und dabei lief sie vor sich selbst davon…
Ihr Herz geriet für einen Moment ins Stolpern, weil sie von dieser Einsicht völlig überrascht wurde. Sei einfach, wer du bist! In der letzten Nacht hatte sie diese Worte Sarafs kaum beachtet, geschweige denn verstanden. Aber sie mussten in den Tiefen ihres Unterbewusstseins trotzdem gegärt und gearbeitet haben – warum sonst erschien ihr die jahrzehntelange Abkehr vom eigenen Ich plötzlich so klar? Wer bin ich? Diese Frage entfaltete sich nun in ihrem Kopf wie ein prachtvoller Schmetterling, der aus seinem Kokon schlüpft. Nur wenn sie ihre Selbsttäuschungen aufgab und neben den starken und bewunderungswürdigen Facetten ihrer Persönlichkeit ebenso die schwachen und verletzlichen akzeptierte, würde sie auch andere Menschen mit deren Talenten und Marotten bejahen können. Und erst dadurch – seltsam, wie lange sie das hatte übersehen können! – wurde das Leben wirklich reich, durch den Austausch von Gedanken und Gefühlen, durch das harmonische Miteinander. Nur wenn sie sich öffnete, konnte sie sich schützen. Diese Überlegungen waren wie ein Befreiungsschlag.
Wie hatte
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