Der silberne Sinn
über diese seltene psychische Erkrankung gelesen, die meist infolge einer Hirnverletzung auftritt. Die Patienten zeichneten sich durch eine erschreckende Teilnahmslosigkeit aus, weil ihnen das Bewusstsein ihrer selbst abhanden gekommen sei, hieß es in dem Fachartikel. Ohne diesen Sinn für das Selbst könne man seine Erlebnisse nicht mehr dem eigenen Organismus zuordnen. Damit sei man auch unempfänglich für das Leid anderer. Jemand, dessen Emotionen aufgrund von Agnosie gleichsam gelähmt waren, würde sich kaum unauffällig in der Öffentlichkeit bewegen können, aber Learys Ansatz zeigte eine viel versprechende Perspektive auf. Flatstone grinste.
»Ich hatte schon fast an Ihnen gezweifelt, Al. Wir müssen also nur jemanden finden und zur Zusammenarbeit überreden, der unter einer zerebralen Läsion mit agnosieähnlichen Symptomen leidet. Was schlagen Sie vor?«
»Man könnte sich in die Patientendateien von Universitätskliniken hacken, die solche Fälle behandeln, besser wäre allerdings…« Leary rieb sich nachdenklich das Kinn.
»Ja?«
»Die Securitate, die Geheimpolizei unter dem rumänischen Staatschef Ceausescu, hatte eine ganz spezielle Methode, um sich skrupellose Rekruten heranzuziehen. Sie steckte Waisenkinder in Heime, wo sie fast völlig ohne emotionale Zuwendung aufwuchsen. Normalerweise stirbt ein Kind, das unter totalem Liebesentzug aufwächst. Wenn es trotzdem überlebt, dann könnte man sich keinen kälteren Killer vorstellen.«
»Jetzt sind Sie wieder der Alte«, freute sich Flatstone. »Und wenn ein solcher Killer dann noch – sagen wir, durch eine Hirnblutung – eine Störung davonträgt, die seine Fähigkeit zu fühlen ganz abtötet, dann wird er zum Roboter im Körper eines Menschen: frei programmierbar, zu allem bereit.«
»So jemand dürfte nicht leicht zu finden sein. Und vor allem nicht auf die Schnelle.«
»Das lassen Sie meine Sorge sein. Noch ist die Situation nicht außer Kontrolle, und wir kommen vielleicht mit ›sanfteren‹ Methoden auch zum Ziel.«
»Sanft?« Der amüsierte Einwurf kam von dem Mann, den Flatstone mit Sam angesprochen hatte.
Der Chef von Stheno Industries lächelte diabolisch. »Wie sagen doch die Chinesen? Wenn du deinen Gegner nicht besiegen kannst, dann mache dir seine Stärken zu Nutze.«
KESSELJAGD
Morgan Hill (Kalifornien, USA)
31. Dezember 2005
0.44 Uhr
Genau vierzig Tage waren vergangen, seit die Operation Clean Sweep mit feurigem Besen die Höhlen des Silbernen Volkes leer gefegt hatte. Und nun war auch der letzte Schatz aus Sarafs unterirdischem Heimatdorf verbrannt. Yeremi hätte immerfort heulen können.
Sie hörte kaum zu, als Saraf im Garten von Bellman’s Paradise für ihren Großvater die dramatischen Ereignisse der letzten Stunden zusammenfasste. Fredrika schlief tief und fest im Haus.
»Was wollt ihr jetzt tun?«, fragte Carl, nachdem er alles gehört hatte.
»Die Schlinge zieht sich zu. Wir müssen unseren Hals herausziehen, bevor es zu spät ist«, sagte Saraf.
»Ihr könntet Montag früh nach San Jose fahren und die Ergebnisse der Blutanalyse abholen, gleich nachdem das Labor geöffnet hat. Du wirst dort unter dem Namen Lina Lunowitsch geführt, Jerry.«
»Wie einfallsreich!«, brummte sie.
»Eddy meinte, das sei sicherer.«
»Das Timing ist perfekt. Wenn Al sich morgen quer stellt, dann übergeben wir am Montag den Behörden mein Dossier und die Daten der Blutuntersuchung.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Leary seinen Boss verpfeift.«
Yeremi lächelte wissend. »Das werde ich von Al auch nicht verlangen. Jedenfalls nicht sofort. Er soll mir erst ein paar Antworten geben, um Licht in das Massensterben von Guyana zu bringen.«
»Welches Sterben meinst du?«
Der optimistische Ausdruck wich aus Yeremis Gesicht, sie schlug die Augen nieder und antwortete: »Das eine wie das andere.«
»Also gut. Ruf den Burschen an, und gib ihm Feuer.«
Yeremi holte ihr Handy hervor und wechselte im Licht eines von Saraf gehaltenen Feuerzeugs die SIM-Karte, wodurch das Mobiltelefon wieder seine ursprüngliche »Identität« zurückerlangte. In dem Gerät bewahrte sie seit Learys überraschendem Anruf in Pacific Grove seine Geheimnummer auf. Man könne ja nie wissen, hatte sie damals gedacht. Jetzt kam ihr diese Voraussicht zugute.
»Ja?«, meldete sich Learys Stimme.
»Ich bin’s«, sagte Yeremi und kam schnell zur Sache. Leary gab sich beschäftigt. Nachdem die Verabredung für den Neujahrstag
Weitere Kostenlose Bücher