Der silberne Sinn
auf dich gerichtet gewesen. Wie du siehst, bist du nicht ganz unbegabt.«
»Ich habe Al eine ziemliche Szene gemacht. Da ist es wohl ganz normal, wenn man sich angeglotzt fühlt. Außerdem gibt es wissenschaftliche Untersuchungen, die solche Wahrnehmungen als Ammenmärchen entlarvt haben.«
»Wurdest du dabei untersucht?«
Sie wich seinem fragenden Blick aus und verlegte sich stattdessen aufs Schweigen. Etwa eine halbe Meile später sagte sie: »Egal ob man den Silbernen Sinn besitzt oder nicht, man muss sich hüten, seine Wahrnehmung durch die eigenen erregten Gefühle zu behindern.«
»Ja, sonst übersiehst oder überhörst du vielleicht, was lebenswichtig für dich sein könnte. Du bist eine gute Schülerin, Jerry!«
»Ich…« Yeremi stutzte. Hatte er da eben gesagt, sie sei die Schülerin? Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. »An deiner Seite fühle ich mich sicher, Saraf. Wenn du bei mir bist, wird Leary mir nichts antun können.«
»Ich bin kein Gott, Jerry, und nicht allmächtig. Je eher du lernst, auf den eigenen Beinen Halt zu finden, desto schwerer werden dich Männer wie Leary erschüttern können. Bald brauchst du mich nicht mehr.«
Yeremi erschrak. »Was willst du damit sagen?«
»Wir sind aus zwei verschiedenen Welten. Ich muss meinen Weg gehen und du den deinen. Mein Herz könnte keinen zweiten Verlust wie den Famas erleiden.«
Yeremi zügelte ihr Pferd und starrte Saraf fassungslos an. »Heißt das… Ich bedeute dir etwas?«
Er seufzte und ließ den Kopf hängen, ein für Saraf höchst ungewöhnliches Verhalten. »Ach, Jerry! Du weißt es doch längst, aber du leugnest deine Gefühle noch immer.«
Ihr Herz schlug in der Brust wie eine Trommel. Sie war nicht nur aufgeregt, sondern vor allem verwirrt. »Und warum spüre ich da diese Mauer, hinter der du dich vor mir versteckst?«
»Vielleicht, weil ich es nicht ertragen könnte, dich an meiner Seite dahinwelken zu sehen.« Er trieb seinem Pferd die Fersen in die Weichen und trabte davon.
Nach dem Ausritt war nichts mehr wie zuvor. Immer noch beherrschte Scheu Yeremis Umgang mit Saraf, aber jetzt war die Angst, von seinem Fühlsinn manipuliert zu werden, fast ganz verschwunden. Dafür fürchtete sie nun, ihn durch irgendeine dumme Äußerung zu vertreiben. Er war der erste Mann seit Jahren, der ihr Herz mit Wärme füllte. Irgendwie liebte sie ihn. Sie wollte ihn nicht verlieren, bevor sie die wahre Natur dieser Liebe ergründet hatte.
Mit diesen Erkenntnissen stellte sich bei Yeremi auch eine neue Qualität von Fürsorglichkeit ein. Es war ihre Großmutter, die sie darauf aufmerksam machte.
»Bist du verliebt in ihn?«, fragte Fredrika, während sie Yeremi beim Packen des Rucksacks half.
Die Herrin von Bellman’s Paradise war das, was man landläufig eine feine alte Dame nannte, gelegentlich kapriziös, aber stets auf Korrektheit, Etikette und ein gepflegtes Äußeres bedacht. In vielem war Molly Bellman eine fünfundzwanzig Jahre jüngere Ausgabe ihrer Schwiegermutter. Fredrikas vom schwedischen Protestantismus geprägte Erziehung erlaubte ihr, Carl uneingeschränkt als ihr »Haupt« zu respektieren, ohne sich dabei einer blinden Hörigkeit hinzugeben. Ihre Zurückhaltung war alles andere als Dummheit. Sie agierte lieber unauffällig im Hintergrund, besonders dann, wenn ihr untrüglicher Blick für die menschliche Seele und ihr wacher Verstand sie dazu anregten.
Yeremi kannte den auf Samtpfoten schleichenden Scharfsinn Fredrikas nur zu gut und stellte sich ahnungslos. »In wen?«
»Du musst mich nicht für dumm verkaufen, Kind. Meinst du, ich sehe nicht, wie du ihm die Kissen zurechtrückst, ihn mästest wie einen Puter, ihn ständig nach seiner Meinung fragst, auf seine zufälligen Berührungen nicht mehr wie auf Stromschläge reagierst, sondern eher wie auf das Schmusen eines Katers. Ich freue mich ja darüber. Nichts würde ich mir so sehr wünschen…«
»Bei Gelegenheit muss ich eine Untersuchung über das Verkuppelungsverhalten von Müttern und Großmüttern im Wandel der Zeiten durchführen. Du und Mama, ihr werdet meine ersten Studienobjekte sein.«
»Ich bin ein großer Bewunderer von Fjodor Dostojewski.«
»Du lenkst ab, Oma Fredrika.«
»Nein, du lenkst ab, mein Kind. Dostojewski sagte: ›Wenn wir uns selbst belügen, sitzt das tiefer, als wenn wir andere belügen.‹ Irgendwann einmal wirst du dich deinen Gefühlen stellen müssen, Jerry.«
»Ja, Oma Fredrika. Aber nicht jetzt.« Yeremi deutete mit dem
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