Der silberne Sinn
Finger zur Decke und formte mit den Lippen das Wort »Wanzen«. Damit hoffte sie, das Thema los zu sein.
Gegen Abend nötigte Yeremi ihren Schützling zu vorzeitiger Bettruhe. Sie würde die erste Wache übernehmen, noch einmal ihr Notgepäck überprüfen, einen Ausflug in den Cyberspace unternehmen und vermutlich viel grübeln.
Nachdem sich Saraf zurückgezogen und sie ihren Rucksack kontrolliert hatte, richtete sie sich im Arbeitszimmer ihres Großvaters häuslich ein. Durch die offen stehende Tür konnte sie Carl und Fredrika im Wohnzimmer auf der wuchtigen Couch beobachten: Sie lehnte an seiner Brust, er hielt ein Glas Rotwein in der Hand, gemeinsam lauschten sie Beethovens Neunter Symphonie. Wohl über eine Minute lang ließ Yeremi das friedliche Bild auf sich wirken. Sie wünschte sich, einen Menschen zu haben, an den sie sich genauso anlehnen und Geborgenheit finden, dem sie aber auch selbst Vertrauen, Wärme und Liebe schenken konnte. Ob Saraf…?
Sie schüttelte den Kopf. Nein, er war nicht der Hafen, in dem ihr Schiff der Gefühle vor Anker gehen konnte, das hatte er ihr deutlich zu verstehen gegeben. Er könne es nicht ertragen, sie an seiner Seite »dahinwelken« zu sehen. Wie er das wohl gemeint hatte? Yeremi war nicht in der Lage gewesen, ihn danach zu fragen. Sie wusste nur eines: Dahinwelken kann nur, wer an seinem Leben leidet, und darin hatte sie eine Menge Erfahrung.
Entschiedener als nötig klappte sie den mobilen Computer auf. Sie stöpselte das Ende des Modemkabels in eine Telefondose und breitete ihre Notizen neben dem Notebook aus. Der jüngste Stand ihrer Recherchen und Wilfried Kugels letzte E-Mail befanden sich immer noch auf dem Postserver ihres Internetdienstleisters. Die dramatischen Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden – vor allem die Zerstörung der Quipus – hatten jeden Gedanken daran verdrängt. Es war höchste Zeit, die von dem Deutschen zusammengetragenen Informationen zu sichten, denn bei dem morgigen Treffen mit Leary würde sie jeden Trumpf gebrauchen können.
Der Abruf ihres im Cyberspace deponierten Datenpakets dauerte mehrere Minuten, wesentlich länger, als sie am gestrigen Abend dazu benötigt hatte, es an McFarell vorbei ins Internet zu schmuggeln. Endlich meldete das E-Mail-Programm den Eingang der neuen Nachrichten. Yeremi rief Kugels Mitteilung auf den Schirm.
Sehr geehrte Frau Bellman,
auf Ihren Wunsch hin habe ich die mir vorliegenden oder sonst – wie zugänglichen Dokumente noch einmal gründlich auf eine mögliche Verbindung Hanussens zum amerikanischen Geheimdienst überprüft. Die schlechte Nachricht vorweg: Es gib keine eindeutigen Beweise für solche Kontakte. Aber – und dieses Aber wiegt schwer! – mir sind während der Recherchen einige Dinge aufgefallen, die gelinde gesagt sonderbar sind: So gut wie alle Personen, die über den Mord an Erik Jan Hanussen sowie über seine eventuelle Zusammenarbeit mit dem G-2 oder mit anderen Geheimdiensten Bescheid gewusst haben könnten, sind vorzeitig verstorben.
Zuerst konzentrierte ich mich auf Hanussens letzten Sekretär, Izmet Aga Dzino. Er starb am 22. September 1937 unter mysteriösen Umständen. Wie am Folgetag die »Illustrierte Kronen-Zeitung« (Wien) und der »Daily Express« (London) übereinstimmend berichteten, hat Dzino zuerst seine Frau und seinen Sohn, darauf sich selbst erschossen. Urteilen Sie anhand meiner beigefügten Faksimiles bitte selbst, ob nicht ein dreifacher Mord die wahrscheinlichere Erklärung für diesen Vorfall ist. Dzino war, wie ich schon andeutete, weder der Erste noch der Letzte in einer langen Reihe von Todesfällen.
Es bleibt unklar, ob Hitler den Mord an Ihrem Urgroßvater persönlich angeordnet hat, auch er lebt nicht mehr. Und so geht es die ganze Befehlskette hinab: Hermann Göring nahm am 15. Oktober 1946 Gift, wodurch er sich der Vollstreckung des während der Nürnberger Prozesse gegen ihn ergangenen Todesurteils entzog. Der 1. Gestapo-Chef Rudolf Diel verstarb 1957 an den Folgen eines »Jagdunfalls«. Ernst Röhm und Karl Ernst wurden bereits am 30. Juni 1934 im Zuge des Röhm-Putsches von der SS erschossen – Karl Ernst hatte das Mordkommando aus Mitgliedern seiner Stabswache zusammengestellt. Wolf Heinrich Graf Helldorf, dem der Liquidierungsbefehl zu Unrecht angelastet wird, wurde am 10. September 1944 gehängt. Wilhelm Ohst, einer der drei Mörder, wurde als SS-Truppenführer in Serbien von Partisanen erschlagen. Rudolf Steinle, Mörder Nummer
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