Der silberne Sinn
getroffen worden war, blickte Yeremi ihren Großvater und Saraf gespannt an.
»Sie führen irgendetwas im Schilde.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Carl.
»Sie spürt es«, sagte Saraf.
»Al hatte richtig Muffensausen, als ich ihm drohte, aber dann wollte er sich doch nicht auf den heutigen Tag festlegen lassen.«
»Sie versuchen, Zeit zu schinden«, brummte Carl.
»Fragt sich nur, wofür.«
»Wir sollten jedenfalls vorsichtig sein. Hast du die Telefonnummer von dem Laborleiter in San Jose? Ich traue Flatstone zu, dass er ein paar Leute schickt, die meine Proben und Testergebnisse stehlen.«
Carl schüttelte den Kopf. »Eddy hält sich immer sehr bedeckt, was seine Informanten betrifft.«
»Dann rufen wir ihn an, und er soll den Mann bitten, mein Zeug in Sicherheit zu bringen.«
»Also gut, gib mal her, dein fotografierendes Musiktelefon. Ich werde Eddy über den neuesten Stand der Dinge ins Bild setzen und ihm ein Liedchen singen, das ihn auf Trab bringt.«
Die Strapazen forderten ihren Tribut. Am Samstagmorgen erwachte Yeremi erst kurz vor zehn. Als ihr verschleierter Blick den Wecker streifte, fuhr sie wie eine Rakete aus dem Bett. Nur Minuten später traf sie im Wintergarten auf Saraf und ihren Großvater. Die beiden Männer plauderten über belanglose Dinge, keine Spur mehr von den Ressentiments, die Carl anfangs gegen den Silbermann gehegt hatte.
Saraf begrüßte Yeremi mit einem seltsam tiefen Blick, der sie nervös machte. Er hatte die Nacht über im Haus Wache gehalten, was ihm aber nicht anzusehen war. Nach dem Frühstück unternahmen sie einen Ausritt in Richtung Henry W. Coe State Park. Auf dem Rücken ihres Pferdes fühlte sich Yeremi einigermaßen sicher vor unsichtbaren Mikrofonen. Ihnen blieben nicht einmal vierundzwanzig Stunden, um die nächsten Schritte vorzubereiten. Morgen Mittag würde sie mit Al Leary sprechen. Danach gab es zwei Optionen: Wenn er sagte, was Yeremi hören wollte, würde sie für Flatstones umgehende Verhaftung sorgen. Andernfalls, das war Yeremi klar, musste sie mit Saraf untertauchen. Sie hatte ihn und ihre Familie schon lange genug in Gefahr gebracht.
Obwohl Yeremi es sich nur zögernd eingestand – sie genoss das Alleinsein mit Saraf. Er strahlte fast in jeder Situation Ruhe und Sicherheit aus. Ausführlich unterhielten sich die beiden, während sie durch die Natur ritten. Saraf erzählte über den Silbernen Sinn. Er tat es nie belehrend. Offenbar machte er sich Sorgen um sie, und das gefiel ihr. Sie lauschte aufmerksam, selbst wenn er über »die dunkle Seite des Fühlsinns« sprach, und wiederholte geduldig seine Lehrsätze, obgleich er sie nie darum bat.
»Der Fühlsinn geht immer mit ehrlicher Selbsteinschätzung einher, Jerry. Mach dich nicht schlechter, als du bist. Aber übertünche deine Schwächen auch nicht mit einer geschönten Wirklichkeit. Wenn du gelernt hast, dich so zu sehen, wie du bist, wirst du auch dein Gegenüber klarer erkennen. Dadurch gewinnst du Macht.«
Ihre Pferde schritten langsam nebeneinander her. Yeremi betrachtete Saraf von der Seite. Er sah gut aus. Wie ein antiker König auf seinem Schlachtross. Seit er den Bart wieder wachsen ließ, wirkte er mit jedem Tag ein wenig weiser. Sie wich einem tief hängenden Ast aus und sagte: »Die Menschen in deiner Nähe verändern sich.
Molly ist ein neuer Mensch geworden, und auch ich habe gelernt umzudenken. Früher war ich mir meiner Sehnsüchte nicht bewusst. Das hat mich verführbar, für die dunkle Seite der Empathie empfänglich gemacht. Ich konnte meine Wunschträume nicht richtig einschätzen. Manchmal habe ich Unsummen von Geld für Sachen ausgegeben, die mich weder interessierten noch meine wahren Bedürfnisse befriedigten. So mancher Verkäufer hat mich ausgenommen wie eine Gans. Irgendwie war ich das wohl auch: eine dumme, eingebildete Gans. Ich brauche alle diese Dinge nicht, damit mein Herz Ruhe findet. Das wird mir allmählich bewusst.«
»Gut, dann ist es jetzt an der Zeit zu lernen, deinen natürlichen Instinkten zu vertrauen.«
»Wie meinst du das?«
»Der Silberne Sinn ist in jedem Menschen verborgen. Er warnt uns vor Gefahr. Man muss der Einfühlung nur Aufmerksamkeit schenken. So kannst du überlegt auf sie reagieren, anstatt dich von Angst lähmen zu lassen.«
»Du bist hier der Gefühlsspieler, nicht ich.«
»Neulich hast du mir erzählt, du hättest vor deiner Reise in den Dschungel eine Bibliothek besucht und das Empfinden gehabt, Dutzende von Blicken seien
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