Der silberne Sinn
angebliche Hellseher Eric Jan Konussen sei, der in Wirklichkeit Steinschneider heiße und tschechisch-jüdischer Abstammung sei. Nach dieser Eröffnung traten der Chauffeur des Gruppenführers Ernst, ein gewisser Stenzel, der Sturmbannführer Ohst sowie der Sturmführer Egger ein. Diesen SA-Führern wurde dasselbe eröffnet und hinzugefügt, daß Hanussen diese seine Redensarten auch in Schriftstücken in das Ausland niedergelegt habe. Da der Stabschef Röhm also aufs schwerste beleidigt worden sei und darüber hinaus auch die SA gegenüber dem Ausland in unerhörtester Weise mißkreditiert wurde, müsse nunmehr Hanussen beseitigt werden. Nach diesen Erklärungen erhielt ich den Befehl, den Hellseher Hanussen zu erschießen.
Lange konnte Yeremi den Blick nicht von diesem unscheinbaren Halbsatz nehmen, in dem der Mörder ihres Urgroßvaters zugab, dass »Hanussen diese seine Redensarten auch in Schriftstücken in das Ausland niedergelegt habe«. Hatte Rudolf Steinle damit nur schmähliche Äußerungen des »angeblichen Hellsehers« über Röhm und andere Nazichargen gemeint? Oder wusste Hitlers Sturmabteilung von Hanussens Absicht, dem G-2 Unterlagen über Medusa zuzuspielen? Mehr noch als zuvor drängte sich Yeremi der Eindruck auf, Baecker könne womöglich getan haben, wozu ihr Urgroßvater nicht mehr fähig gewesen war, nämlich den amerikanischen Militärgeheimdienst über das Geheimprojekt der Nazis aufzuklären, das Methoden zur Manipulation von Menschen erarbeiten sollte. War Medusa so zum direkten Vorläufer von Artischocke und MK-Ultra geworden…?
Yeremi schwirrte der Kopf. Sie klappte ihr Notebook zu und blickte ins Wohnzimmer hinüber. Ihr Großvater hatte irgendwann die Brücken zu seiner Vergangenheit abgerissen, um für sich Frieden zu finden. Jetzt musste ausgerechnet sie, seine Enkelin, diese trügerische Ruhe stören.
Die Unterbrechung hatte Yeremi gut getan. Während des Nachsinnens waren ihr neue Gedankenverbindungen eingefallen, die sie zum Weitermachen anspornten. Es gab noch so viel, das sie bis zum Treffen mit Leary lernen und überdenken musste. Bis kurz vor Mitternacht brütete sie über dem Jonestown-Material, das sie noch im Strandhaus aus dem Internet zusammengetragen hatte. Dann brannte sie es samt ihren Notizen, Wilfried Kugels Dossier sowie allen anderen Daten des »Silbervolk-Projektes« auf eine DVD, steckte diese in den Umschlag, der auch den zurückbehaltenen Stofffetzen mit ihrem vertrockneten Blut enthielt, und übergab alles Carl »zur sicheren Aufbewahrung«. Müde und den Kopf voller unbeantworteter Fragen, machte sie sich anschließend auf den Weg in den ersten Stock. Zaghaft klopfte sie an Sarafs Zimmertür.
Er öffnete nur Sekunden später.
Sie lächelte ihn müde an. »Du hast bestimmt noch nie ein Silvesterfeuerwerk gesehen.«
Das alte Jahr gehörte bereits seit einigen Sekunden der Vergangenheit an, als die beiden sich vor dem Haus zu Carl und Fredrika gesellten. Der Patriarch selbst war kein Freund von Geistervertreibungen, weshalb es in Bellman’s Paradise paradiesisch ruhig blieb. Fast jedenfalls. Ab und zu wehte der Wind das Geräusch explodierender Böller und Raketen aus der Ferne herüber. Aus pyrotechnischer Sicht konnte Morgan Hill einem Vergleich mit San Francisco oder Berkeley nicht standhalten, die Kulisse hier war eher bescheiden. Aber für jemanden, der so etwas noch nie gesehen hatte…
»Die Feuerwerke am spanischen Hof waren prachtvoller«, sagte Saraf, als er an Yeremis Seite zum westlichen Horizont blickte.
Yeremi musterte ihren Schützling von unten herauf. »Ja, aber so etwas mit eigenen Augen zu sehen ist doch auch etwas, oder?«
»Damit hast du wohl Recht.«
Ihr Blick haftete noch eine ganze Weile auf seinem von Leuchtkugeln illuminierten Gesicht.
Gegen vier Uhr morgens war längst Ruhe eingekehrt im Anwesen des Bellman-Patriarchen. Alle schliefen. Nur Saraf nicht. Bewegungslos saß er im großen Salon und blickte in die erlöschende Glut des Kamins. Sie spendete ein wenig Licht, mehr als Saraf Argyr brauchte. Er hatte viele Silberjahre in der Dunkelheit gelebt.
Plötzlich fuhr sein Kopf hoch.
Kein Geräusch war zu hören, kein Aufblitzen einer Taschenlampe, aber er nahm den Eindringling trotzdem wahr. Der Silberne Sinn war in manchem mit dem Gehör zu vergleichen. Dem Unaufmerksamen entgingen verräterische Laute leicht, aber der geschärfte Sinn war nur schwer zu überrumpeln. Genauso »hörte« Saraf zwar fremde
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