Der silberne Sinn
der Mattscheibe. Es sah wenig entspannt aus, eher so, als müsse es jeden Moment zerspringen. Das, was die Sprecherin aus dem Konzept zu bringen drohte, noch bevor sie es vorlas, war nicht etwa der Tod eines motorradbegeisterten Anglers, der während eines Raubzuges außerhalb von Morgan Hill an akutem Herzversagen verstorben war, sondern eine erst Sekunden vorher auf ihren Tisch geflatterte Nachricht. Zu ihrer Entschuldigung stellte sie diesen Hinweis ihrer Meldung voran:
Murmansk. Seit Jahren wurde es befürchtet, jetzt ist es geschehen: Unbekannte Täter haben in der russischen Hafenstadt Murmansk größere Mengen von Atommüll gestohlen. Der Vorfall trug sich offenbar bereits vor einigen Tagen zu, aber Moskau hat den Vorfall erst jetzt publik gemacht.
Murmansk gilt als die gefährlichste Stadt der Welt, weil dort in einem Umkreis von dreißig Meilen mehr Nuklearabfälle lagern als in allen Zwischen- und Endlagern der westlichen Welt zusammen. Schon lange beklagen Experten die davon ausgehende Gefahr. Im so genannten Bellona-Gutachten wurde »das substanzielle Risiko einer unkontrollierbaren Kettenreaktion, so wie sie in Tschernobyl geschehen ist«, nachgewiesen. Eine Kernschmelze in den baufälligen Zwischenlagern würde die gesamte nördliche Erdhalbkugel verseuchen. Unterschätzt hat man offenbar, welche Versuchung Zigtausende Tonnen von schlecht oder gar nicht bewachtem Atomschrott für Terroristen darstellen musste. Nach Meinung amerikanischer Sicherheitsexperten waren es Personen mit terroristischem Hintergrund, die nun den Frachter Lepse überfallen haben. Er liegt nur etwas mehr als eine Meile vom Stadtzentrum entfernt im zivilen Teil des Hafens vertäut. Laut Greenpeace war die Lepse mit Tausenden von einbetonierten Brennelementen beladen. Das fast siebzig Jahre alte und nur noch mit Pressluft über Wasser gehaltene Schiff gilt hauptsächlich wegen seines maroden Zustands als Bedrohung. Und nun ist geschehen, was von behördlicher Seite stets als unmöglich heruntergespielt worden war: Eine noch unbekannte Anzahl der Brennstäbe wurde gestohlen.
Das Weiße Haus hat der russischen Regierung sofortige Hilfe bei der Suche nach den Tätern angeboten. Zur Stunde liegt aus Moskau aber noch keine Antwort vor. Auch das offizielle Washington hält sich noch bedeckt. Ein paar erste Stellungnahmen von Seiten amerikanischer Militärexperten klingen fast ausnahmslos besorgt. Die Fachleute halten den Vorfall für eine ernst zu nehmende Bedrohung der nationalen Sicherheit. Ihre Planspiele konzentrieren sich hauptsächlich auf zwei Szenarien: Erstens könnten Terroristen aus dem Material der Brennstäbe relativ einfach eine »schmutzige Bombe« bauen, so nennt man einen Explosivkörper, der – etwa mit Plastiksprengstoff – konventionell gezündet wird und bei der Detonation radioaktives Material in der Luft verbreitet. Weniger durch die Sprengkraft als viel mehr durch die radioaktive Verseuchung könnte eine solche Bombe, in einer amerikanischen Großstadt gezündet, Tausende Menschen töten. Weit schlimmer wäre das zweite Szenario: Gelänge es den Terroristen, eine echte Atombombe zu bauen und diese womöglich in den nuklearen Zwischenlagern rund um Murmansk zu zünden, dann wäre das Leben in der gesamten nördlichen Hemisphäre bedroht. So viel zu dieser Meldung. Wir bemühen uns fieberhaft um weitere Informationen und offizielle Stellungnahmen. Mehr dazu bald in einer aktuellen Sondersendung.
Yeremi hatte sofort an Accolons Worte denken müssen. Sie blickte ihren Großvater an. »Wie wird das Weiße Haus reagieren, wenn die Russen sich nicht helfen lassen?«
»Ich denke, der amerikanische Präsident wird den russischen Präsidenten unmissverständlich davon überzeugen, dass er sich helfen lassen muss.«
»Und wenn der zu stolz dazu ist?«
»Dann könnte Washington Russland vorwerfen, es beherberge Terroristen, die Amerika bedrohten. Wir haben in Afghanistan gesehen, wohin das führt.«
»Es gibt da einen kleinen Unterschied: Die Taliban und Osama bin Laden konnten nicht mit Atomwaffen zurückschlagen.«
»Bist du dir da so sicher?«
»Angenommen, die amerikanische Regierung könnte den russischen Verhandlungsführern Angst vor einem solchen Konflikt einjagen. Todesangst. Würden sie dann nicht einlenken, selbst wenn dadurch ihr Nationalstolz angekratzt werden könnte?«
»Du denkst an Flatstones geheimes Programm, nicht wahr?«
»Das liegt doch auf der Hand, oder? Der Mann, den wir in der Windmühle
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