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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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eintrafen, hatte er schon eine vorläufige Todesursache festgestellt: Herzversagen.
    Der Arzt schüttelte verwundert den Kopf. »Selten habe ich einen Hingeschiedenen mit einem solchen Ausdruck auf dem Gesicht gesehen: als hätte er Gevatter Tod direkt ins Antlitz geblickt.«
    »Vielleicht hat er das ja«, sagte Lieutenant Gilbert von der örtlichen Polizei. Der junge Streifenbeamte vertrat seine Behörde gegenüber dem Bürger gerne als guter Kumpel. Er war mit einem sonnigen Gemüt gesegnet und zudem ein großer Bewunderer von Fredrikas Blaubeertorte. »Wie es aussieht, ist der Fall klar. Der Bursche ist hier eingedrungen, um nach Schmuck oder Wertgegenständen zu suchen.«
    »Mit einem Nachtsichtgerät?«, fragte Carl. Yeremi gab ihm hinter dem Rücken des Polizisten ein Zeichen, um nicht unnötig Gilberts Argwohn zu wecken.
    Aber der Beamte und sein Begleiter – ein pickeliger Bursche mit asiatischem Gesicht – sahen, was ihnen der Arzt bestätigt hatte. Man kannte sich in Morgan Hill, vertraute einander, der Fall war klar. »Solche Dinger kauft man heute im Internet, Mr Bellman. Überhaupt kein Problem«, sagte Gilbert mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Und die Waffe, die wir bei ihm gefunden haben – jedes Kind kann sich heute so eine Pistole beschaffen. Willkommen im Amerika des einundzwanzigsten Jahrhunderts!«
    Carl konnte über diesen Neujahrsscherz nicht lachen.
    Gilbert glaubte seinen kleinen Ausrutscher durch Förmlichkeit korrigieren zu müssen. Er räusperte sich. »Ich muss leider noch ein paar Formalitäten mit Ihnen, Ihrer Frau und Ihrer Enkeltochter klären, Mr Bellman. Tut mir sehr Leid.« Gilbert lachte schon wieder. »Das neue Jahr hat wohl nicht besonders gut für Sie angefangen, was?«
    Innerhalb weniger Stunden war es sein zweiter Ausflug zu dem kleinen, etwa vier Meilen entfernten Blockhaus. Sonst benutzte er es manchmal wochenlang gar nicht. Es lag nur einen Steinwurf weit vom Coyote Creek entfernt, beschattet von uralten Kanadischen Hemlocktannen. Das Westufer des Anderson Lake erreichte man zu Fuß in fünf Minuten. Die Hütte war Carls Refugium zum Nachdenken – er nannte es »mit den Fischen reden«. Er hatte Saraf unmittelbar nach dem Ableben des Anglers dorthin gefahren und war fast gleichzeitig mit Doktor Sibelius wieder in Bellman’s Paradise eingetroffen. Bei dieser zweiten Fahrt in der Dämmerung des Neujahrstages begleitete Yeremi ihren Großvater.
    Saraf saß wie bestellt und nicht abgeholt auf der alten Kleidertruhe von Urgroßmutter Rose. Yeremi stürzte in den Raum und fiel ihm in die Arme.
    »Die Polizei ist fort. Aber wir sind bei meinen Großeltern nicht mehr sicher.«
    Saraf drückte Yeremi kurz an sich, dann löste er sich wieder von ihr. »Schon um Carls und Fredrikas willen müssen wir gehen.«
    »Im Auto ist mein Rucksack. Die Tasche mit deinen Sachen haben wir auch mitgebracht. Wir können also sofort nach San Francisco starten, nachdem wir Opa Carl abgesetzt haben.«
    »Willst du dich wirklich noch mit Al Leary treffen?«
    »Er könnte uns den Schlüssel zur Wahrheit liefern.«
    Saraf trat einen Schritt vor und umarmte Yeremi ein zweites Mal. »Du bist sehr mutig, Jerry. Ich bin dir schon jetzt dankbar für alles, was du für mich getan hast. Vergiss diese Verabredung, und lass uns sofort von hier verschwinden.«
    Diesmal war es Yeremi, die ihn sanft von sich schob. »Nein, Saraf, wir sind noch nicht am Ziel. Wer dein Volk getötet hat, ist womöglich auch der Mörder meiner Eltern. Ich muss diesen Weg zu Ende gehen.«
    »Es ist gleich sieben. Mich würde interessieren, ob das Fernsehen irgendetwas über unseren toten Angler bringt. Bevor ihr aufbrecht, sollten wir noch einen kurzen Blick in die Nachrichten werfen.« Carl war sich neben den beiden wie ein Fremdkörper vorgekommen und hatte einfach irgendetwas sagen müssen.
    Weil Yeremi kaum noch daran zweifelte, dass Bellman’s Paradise ebenso wie das Strandhaus in Pacific Grove verwanzt war, hielt sie den Vorschlag kaum für hilfreich. Vom Scheitern seines »Anglers« dürfte Flatstone ohnehin längst Kenntnis haben, aber trotzdem lief sie zu dem Eichenholzschrank, in dem das Gerät verborgen war, öffnete die beiden Flügeltüren, schaltete es ein und wählte mit der Fernbedienung den Lokalsender.
    Gerade lief der computeranimierte Vorspann, der, begleitet von einer pompösen Erkennungsmelodie, den Beginn der Sendung ankündigte. Das glatt gespachtelte Gesicht einer blutjungen Moderatorin erschien auf

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