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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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gleichbedeutend mit Freundlichkeit…
    Yeremis Gedanken wurden plötzlich zäh wir Harz. Ein nur allzu vertrauter Geruch stieg ihr in die Nase. Ihre Pulsfrequenz stieg augenblicklich an. Sie drehte den Kopf…
    »Entschuldige die kleine Verspätung, bin aufgehalten worden. Darf ich mich setzen?«, sagte Leary. Er musste, während sie Blickkontakt mit Saraf gesucht hatte, ungesehen durch die Gruppe Japaner geschlüpft sein, die gerade eine Fotodokumentation über den Eingang des Cafes zu erstellen schien. Hoffentlich war ihm ihr stiller Hilferuf entgangen.
    »Wir hatten uns vor zwanzig Minuten…«, setzte sie zu einem Vorwurf an, rief aber ihre Gefühle sofort zur Ordnung. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Danke für dein Kommen, Al. Offen gestanden fürchtete ich schon, vergeblich zu warten.«
    »So? Wieso das denn?«
    »Kannst du es dir wirklich nicht denken? Hast du denn ernsthaft damit gerechnet, mich hier zu sehen?«
    Mit keiner Silbe hatte Yeremi den Tod des Anglers oder den des Laborleiters Cedric Youngberg erwähnt, aber Leary verhielt sich so, als hätte er ihre Andeutung genau verstanden: Er blickte sich ungeduldig nach der Bedienung um, griff in die Hosentasche und holte einen Schlüsselbund hervor, den er klimpernd über die Granitplatte schlittern ließ, bevor er Anstalten machte, sich zu setzen. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit war er an diesem Tag ausgesprochen leger gekleidet: eine sandfarbene Hose mit exakten Bügelfalten, ein schwarzes Poloshirt und darüber ein ebenfalls schwarzes Leinensakko. Unter seinem Arm klemmte eine dünne Aktentasche – farblich abgestimmt auf Hemd und Jackett –, die er jetzt auf den Nachbarsitz warf. Er nahm Yeremi gegenüber Platz, mit dem Rücken zu Saraf. Inzwischen musste er sein Gleichgewicht wiedergefunden haben, denn er breitete großspurig die Arme aus und beteuerte: »Ehrlich gesagt, wüsste ich nicht, wo ich im Augenblick lieber wäre.«
    Sie ließ die Schmeichelei von sich abprallen. Aus seiner Äußerung sprach alles andere als echte Einfühlung. Er war hier, um etwas zu bekommen. Ebenso wie sie. Yeremi nahm die Espressotasse fest in beide Hände. Die Hitze des Porzellans half ihr, das Gefühl des Ausgeliefertseins wegzubrennen, das sie fast jedes Mal in Learys Nähe befiel. Er war Psychologe. Konnte er ihre Gefühle erraten? Sie hatte lange darüber nachgedacht, wie sie ihr kleines »Schachspiel« eröffnen sollte, und sich zu einer Überraschungsfrage entschieden.
    »Was ist dran an der Empathie?«
    In Anbetracht ihrer besonderen Situation war es das Natürlichste von der Welt, sich danach zu erkundigen. Dennoch stutzte Leary zunächst. Aber dann verzogen sich seine Lippen zu jenem Lächeln, das Yeremi früher einmal gefallen hatte. Er war schon immer ein Mann gewesen, der gerne mit seinem Wissen glänzte. Nach einem eher spöttischen Auftakt verfiel er daher schnell ins Dozieren.
    »Heiliger Strohsack, der Silbermann scheint es dir ja wirklich angetan zu haben. Und weißt du was? Ich kann dich sogar verstehen. Auf mich übt seine Gabe vielleicht sogar eine noch größere Anziehungskraft aus als auf dich. Die Empathie ist ein in jeder Hinsicht faszinierendes Forschungsgebiet, das mich schon seit Jahren fesselt. Mit ihrer Hilfe können wir die individuellen Erfahrungen eines anderen Menschen verstehen und darauf reagieren. Empathie ist uns allen angeboren. Durch sie heilen oder verletzen wir.«
    Verletzen? Yeremi traute Leary zu, dieses Wort aus purem Kalkül gewählt zu haben, und erschauerte. Er wollte ihre Wachsamkeit schwächen, aber das würde sie nicht zulassen. Sie beugte sich vor, sah ihm fest in die Augen und sagte: »Oder wir töten.«
    Ein Schatten huschte über Learys Gesicht, nur eine Sekunde lang. Für eine Weile hielt er ihrem Blick stand, ehe er bekannte: »Auch das.«
    »Es kommt also darauf an, wer die Einfühlung einsetzt.«
    Er verschaffte sich eine Atempause, indem er einem vorbeieilenden Ober eine Bestellung zuwarf. Dann antwortete er: »Die Person ist zweitrangig, wenn man weiß, wie die Empathie zu gebrauchen ist.«
    »O wie Recht du hast! Man denke nur an die Dissidenten, deren Willen in der Sowjetzeit mit Neuroleptika gebrochen wurde. Die Täter in den psychiatrischen Kliniken waren austauschbar, es kam auf die Methode an.«
    Leary lächelte. »Du solltest dieses erlesene Thema nicht mit deinem Sarkasmus versalzen. Natürlich hat es viele Versuche gegeben, die Gedanken und Empfindungen von Menschen auf stümperhafte Weise zu

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