Der silberne Sinn
hängen.«
»Jetzt lässt dein Humor zu wünschen übrig, Jerry. Achte bitte einmal auf dieses Detail hier.« Leary zeigte mit dem kleinen Finger der rechten Hand auf den Halsausschnitt des größeren der beiden Raumpfleger. Dann zog er ein weiteres Foto aus dem Umschlag und legte es daneben auf den Tisch. »Das hier ist eine Vergrößerung, die von einer Bildbearbeitungssoftware scharf gerechnet wurde. So kannst du die Halskette besser erkennen.«
Yeremi hatte Sarafs Perlenschnur auch schon vorher gesehen. Schach matt! Der Gedanke raubte ihr alle Energie. Sie konnte sich gerade noch beherrschen, nicht zu Saraf hinüberzublicken. Weil ihr die Kraft zu einer Antwort fehlte, ergriff erneut Leary das Wort.
»Fällt dir jetzt vielleicht ein, ob es Überlebende der Tragödie gegeben hat?«
Yeremi wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie konnte spüren, wie die Panik in ihr aufstieg. War damit alles verloren? Das Einzige, woran sie in diesem Moment denken konnte, war Flucht. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und stieß dabei mit den Oberschenkeln gegen den Tisch. Learys vorbildlich gebügelte Hose bekam den Rest seines Espressos zu kosten.
»Warte, Jerry!«, rief er, um sie zurückzuhalten.
Tatsächlich verharrte sie noch einmal.
»Ich habe dir schon im Dschungel gesagt, man könne Probleme nicht durch Davonlaufen lösen, sondern müsse sie entschlossen anpacken. Das war dir damals schon klar. Noch hast du Zeit, alles zum Guten zu wenden.«
Die dramatische Zuspitzung ihrer Konversation war weder dem Personal noch den Gästen des Trieste entgangen. Interessiert lauschte man dem Finale des, so die einhellige Ansicht, Beziehungsstreits.
»Gut?«, stieß Yeremi hervor. »Was soll da gut werden? Du drohst mir mit der Polizei…« – ein vielstimmiges Raunen ging durchs Lokal –, »bezichtigst mich des Diebstahls…« – das Getuschel wurde lauter – »und willst in meinem Keller sogar nach Leichen graben…« – mehrere verzückte »Oh!« erschollen. »Was soll ich darauf noch erwidern?«
Zustimmendes Nicken im Publikum. »Da hat sie Recht«, sagte am Nachbartisch ein wohlbeleibter, älterer Herr, dem eine Meerschaumpfeife aus dem Gesicht ragte.
»Bringe ihn zu mir. Zu dritt schaffen wir das Problem aus der Welt«, schlug Leary vor.
»Wusste ich ‘s doch: Sie betrügt ihn«, flüsterte jemand, den Yeremi nicht sehen konnte.
Sie zögerte noch. Leary, nein, Flatstone hatte sie in der Hand. Er konnte sie wegen etlicher Vergehen anzeigen: Menschenhandel, Diebstahl, vielleicht sogar Mord. Irgendwann würde ein hoch bezahlter Anwalt sie da rauspauken, aber bis dahin wäre Saraf vermutlich seziert, ihr Ruf ruiniert und sie in Untersuchungshaft restlos demoralisiert. Sie musste sich eine Galgenfrist verschaffen, um wenigstens Saraf zu retten. Danach…
»Was ist?«, drängte Leary. Demonstrativ holte er sein Handy aus der Tasche.
»Ich brauche Bedenkzeit.«
»Du bist nicht in der Position, um Forderungen zu stellen.«
»Ekelhafter Kerl«, sagte eine bohnenstangendürre Dame in Sarafs Nähe.
»Wenn ich untergehe, dann du mit mir«, erwiderte Yeremi. Wenigstens darin wollte sie unnachgiebig bleiben. »Vierundzwanzig Stunden«, sagte sie mit fester Stimme. »Das bist du mir schuldig, schon wegen dem, was du mir angetan hast.«
Langsam begann Leary zu nicken. »Also gut, Jerry. Einen Tag und nicht länger. Und vergiss nicht: Davonlaufen verschlimmert alles nur.«
Beifall erklang, für wen auch immer. Yeremi hörte es nicht einmal. Sie stürmte aus dem Cafe.
Benjamin Franklin ahnte nichts von Yeremis Leid. Er stand – so stumm und steif, wie es eine Statue nur konnte – im Zentrum des Washington Square Park und würdigte sie keines Blickes. Endlich erschien Saraf. Er eilte mit langen Schritten herbei. Die Grünanlage lag nicht einmal fünf Minuten vom Caffe Trieste entfernt. Sie hatten sich direkt vor dem Erfinder des Blitzableiters verabredet.
»Ich habe alles vermasselt!«, wetterte Yeremi, die Hände in die Luft werfend, den Tränen nahe.
Saraf nahm sie in den Arm. »Nun beruhige dich erst einmal, Jerry.«
»Er weiß alles über uns. Wie kann ich mich da beruhigen?«, jammerte sie.
»Komm, lass uns ein Stück laufen. Das wird dir gut tun.«
Yeremi zog sich die Strickjacke aus, obwohl es an diesem Neujahrstag alles andere als warm war – der Gefühlsaufruhr hatte ihren Kreislauf in Schwung gebracht. Gemessenen Schrittes ließ sie sich von ihm auf einen Weg führen, der die großen
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