Der silberne Sinn
Begegnung zu Learys niederträchtigen Manipulationen? Womöglich waren die Hinweise, die er ihr durch sein Verhalten und seine Gefühle gegeben hatte, nur ein Bauernopfer gewesen im Vergleich zu dem, was er ihr in dem Gespräch abtrotzen konnte. Ihre Reaktion auf die Fotos war unmissverständlich gewesen. Vermutlich telefonierte er bereits mit Flatstone und meldete die gute Nachricht: Der Silbermann befindet sich ganz in der Nähe. Schnappt ihn euch!
Sie drückte fest Sarafs Hand und murmelte: »Leider wird kein Gericht Leary nur auf das Zeugnis deines Silbernen Sinnes hin verurteilen. Wir müssen eine Entscheidung treffen, was als Nächstes zu tun ist.«
»Hat Al Leary dir gedroht?«
»Er will mir einen Haufen Verbrechen anhängen. Vermutlich werden gerade Beweise gefälscht, damit es so aussieht, als hätte ich den Tod des Anglers verursacht. Al kann sehr hartnäckig sein. Er wird selbst dann nicht lockerlassen, wenn ich dich in ein Flugzeug setzen und wieder in den Dschungel fliegen ließe.«
»Du hast schon genug für mich getan, Jerry. Wir können uns trennen. Gleich jetzt und hier. Nach dem Gesetz des Silbernen Volkes sind die Schuldigen gefunden. Nun müssen sie nur noch verurteilt und bestraft werden.«
»Was soll das heißen? Willst du etwa allein losziehen, dir beim Pfandleiher ein Henkersbeil besorgen und alle abmurksen?«
»Was ist ein Pfandleiher?«
»Jemand, der armen Kriegern für einen Apfel und ein Ei ihr Schwert abluchst, um es für ein Vielfaches an andere weiter zu verscherbeln.«
»Kennst du einen Pfandleiher in der Nähe?«
»Saraf! Schlag dir das aus dem Kopf. Dir und deinem Volk muss Gerechtigkeit widerfahren. Mein Versprechen, dir dabei zu helfen, gilt. Wir brauchen Zeit, um gerichtsverwertbare Beweise herbeizuschaffen, und ich habe auch schon eine Idee, wie uns das gelingen kann.«
DAS OUTING
San Francisco (Kalifornien, USA),
2. Januar 2006,
9.16 Uhr
Er durfte nicht länger ein Phantom bleiben. Solange sie mit seiner Unterstützung nur Ermittlungen angestellt hatte, war die Strategie vielleicht richtig gewesen. Nun jedoch kämpfte der Gegner mit harten Bandagen. Es gab nach Yeremis Einschätzung nur einen Ausweg aus ihrer bedrohlichen Situation: die Flucht in die Öffentlichkeit. Wenn alle Welt von Saraf Argyrs Schicksal wusste, würde man ihn nicht still und heimlich vereinnahmen können wie zuvor die Knotenschnüre.
Sandra Schroeder hatte dem Plan tags zuvor sofort zugestimmt, Einladungen an die Redaktionen erstellt und diese gleich per E-Mail verschickt. »Mach dir keine Sorgen, du bekommst dein Publikum«, hatte ihr in der Schwarzen Kammer gegebenes Versprechen gelautet. »Ich weiß genau, wie wir den Nerv der Journaille treffen. Maile mir deine Notizen zu, und ich bereite für dich eine hübsche kleine Multimediashow vor. Bei dieser anderen Sache allerdings… Das könnte schwierig werden.«
Die »andere Sache« betraf eine Frau, genauer gesagt die Senatorin des achten Distrikts, der die westliche Hälfte von San Francisco und das nördliche San Mateo umfasste. Ihr Name lautete Jackie Tailor.
Erst durch ihre kürzliche Recherche im Internet war Yeremi von neuem auf sie aufmerksam geworden und hatte sich plötzlich wieder an die nette junge Assistentin von Congressman Leo Ryan erinnert. Am Morgen der letzten Weißen Nacht des Jahres 1978 war Tailor eine hoffnungsvolle Juristin von gerade achtundzwanzig Jahren gewesen, die sich als Rechtsberaterin Ryans gute Chancen auf eine steile Karriere ausrechnen durfte. Einige Stunden später hätte sie in einem Kugelhagel beinahe ein jähes Ende gefunden. Doch sie überlebte knapp die Schießerei auf dem Flugfeld von Port Kaituma. Dank ihres Engagements im Dienst der Öffentlichkeit hatte sie sich seitdem eine wachsende Anhängerschaft erworben.
Gab es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen vom 18. November 1978 und dem Massaker am Silbernen Volk? Yeremis Verdacht stand auf wackligen Füßen. Sie brauchte Beweise, und diese erhoffte sie von der Senatorin zu bekommen. Sollte es gelingen, Flatstone, dem CIA oder beiden zusammen die geheime Fortführung des menschenverachtenden MK-Ultra-Programmes nachzuweisen, dann konnte die energische Politikerin zu ihrer Kronzeugin werden.
Als Yeremi jedoch zu früher Stunde Tailors Büro in der Golden Gate Avenue anrief, prallte sie auf eine menschliche Barriere, die sich Thelma Splendour nannte. Tailors Assistentin schien sich der Aufgabe verschrieben zu
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