Der silberne Sinn
rief Flatstone, der neben Leary auf dem Sessel des Copiloten saß.
Die Mündung der Pistole blieb weiter auf Saraf gerichtet. Das Gesicht des Killers zeigte nicht die geringste Regung.
»Madalin!«, wiederholte Flatstone energischer.
Der Rumäne drehte sich wieder um.
Yeremi atmete erleichtert aus. »Puh! Das war knapp«, raunte sie.
Nachdem alle den Helikopter verlassen hatten, richtete Flatstone das Wort an Saraf. »Nur damit wir uns richtig verstehen, Freundchen: Ist das hier dein Vilcapampa?«
»Das ist die Stadt, die von Pachacuti Inca Yupanqui errichtet wurde, um dem Gedächtnis des Silbernen Volkes als Hort zu dienen.«
Der Stheno-Chef sah Hilfe suchend Yeremi an, die mit grimmiger Miene erklärte: »Machu Picchu wurde nach heutigem Kenntnisstand tatsächlich um 1450 unserer Zeitrechnung von dem Inkaherrscher Pachacuti erbaut. Und wenn Ihre Wanzen keine Aussetzer hatten, Mr Flatstone, dann dürften Sie die Geschichte der Hüter des Silbernen Volkes kennen und wissen, was Saraf Argyrs Antwort zu bedeuten hat.«
Flatstones Knopfaugen richteten sich wieder auf Saraf. »Also gut, Silberner Mann. Dann zeigen Sie uns mal, wo Ihr Schatz begraben liegt.«
Saraf blickte an Flatstone vorbei und deutete entlang der Längsachse des Zentralplatzes in nordwestliche Richtung. »Der Huayna Picchu ist unser Ziel.« Ohne eine Antwort des Stheno-Chefs abzuwarten, setzte er sich mit langen Schritten in Bewegung. Yeremi folgte ihm dichtauf. Nach wenigen Sekunden wurde sie von Flatstone und Leary flankiert. Madalin bildete die Nachhut. Über der Schulter trug er einen Rucksack mit Taschenlampen, in der Rechten eine entsicherte Waffe.
»Huayna Picchu? Ist das Inka?«, fragte Flatstone.
»Ja, es bedeutet ›Junger Gipfel‹«, antwortete Yeremi und deutete dabei auf den kegelförmigen Berg, der im Nordwesten die Stadt überragte.
Leary zeigte mit dem Daumen zu dem zweiten Berg, der hinter ihnen lag. »Dann ist das da vermutlich der ›Alte Gipfel‹.«
»Du sagst es. Sein Name lautet Machu Picchu.«
»So wie die Stadt?«
»Nein. Saraf sagte, die Stadt heißt Vilcapampa.«
Der Psychologe sah sie verwirrt an und schwieg.
Um zum Jungen Gipfel zu gelangen, mussten die fünf abendlichen Besucher mehrere Terrassenstufen überwinden. Je länger Yeremi zwischen den Gebäuden hindurchschritt, desto näher fühlte sie sich ihren längst verstorbenen Erbauern. Offenbar hatte ihr hohes technisches und handwerkliches Können weit mehr als nur der Errichtung einer Stadt gedient. Sarafs Worte ließen diesen Ort in einem völlig neuen Licht erscheinen. Seine Unzugänglichkeit war umso einleuchtender, wenn man bedachte, was Pachacuti Inca Yupanqui hier zu verbergen suchte: Gold und Silber, feurige Leidenschaft und kühle Vernunft, den materiellen Schatz der Inka und den geistigen des Silbernen Volkes.
Spontan musste Yeremi an Professor McFarells Ausführungen über die Pyramiden in Ägypten und Amerika, an Sarafs Erklärungen zu den spitzen Höhlengewölben im mexikanischen Aguascalientes und im letzten Refugium des Silbernen Volkes in den Wassarai-Bergen von Guyana denken. All die Rätsel jener Orte schienen sich hier zu fokussieren, als könne ihre Lösung nur an dieser so lange verschollenen Stätte gefunden werden. Warum hatten die Inka ihre nahe Hauptstadt wohl Cuzco, »Nabel der Welt«, genannt?
Während Yeremi darüber nachsann, wanderte die Gruppe am Intihuatana vorbei. Der »Sitz der Sonne« zog links an ihnen vorüber. Das Heiligtum thronte oberhalb einer Felswand. Man konnte es nur von einer heiligen Plaza aus über ein System von Treppen erreichen. Rasch und doch würdevoll, so als führe er eine Prozession an, verließ Saraf das eigentliche Stadtgebiet und marschierte durch zunehmend unwegsames Gelände auf Huayna Picchu zu, den Jungen Gipfel. Das Tageslicht schwand in der Nähe des Äquators sehr rasch. Als die Gruppe einen Streifen aus Bäumen und Buschwerk durchqueren musste, wurde es fast schlagartig dunkel. Madalin verteilte Taschenlampen.
Hinter dem Waldstück führte der Weg über ein Terrassenfeld an der Flanke des Huayna Picchu entlang. Als Erster in der Gruppe fing zu Yeremis Überraschung nicht etwa Flatstone an zu keuchen, sondern Madalin. Und noch etwas fiel ihr auf: Fast wie mit einem Rosenkranz spielten Sarafs Finger nun ständig mit der Perlenkette. War er etwa doch nervöser, als er zugeben wollte? Bis zu diesem Augenblick hatte sie sich felsenfest auf ihn verlassen, aber jetzt nagten Zweifel an ihr.
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