Der silberne Sinn
sie die Ursache für den Nebel des Todes zu kennen, der sich nach der Abfahrt des gelben Lastwagens auf Jonestown gesenkt hatte, und sie schauderte. Die schleichende Angst ging von Vater Jones aus und übertrug sich auf die Übrigen im Saal.
Nicht alle waren dazu bereit, dem Reverend in den Tod zu folgen. Auch das spürte Jerry. Da gab es einen stillen Widerstand: Furcht, die in Flucht umschlagen würde, sobald sie einen Ausweg fand.
Neben dem Pavillon stand auf einem der Bohlenpfade ein Tisch aus rötlichem Holz. Darauf befanden sich zwei große weiße sowie ein dunkelgrauer Plastikbehälter, außerdem ein brauner Kunststoffkanister und eine Vielzahl von Schachteln. Eine Reihe von Leuten, die Jerry bekannt vorkamen, machten sich an den Behältern zu schaffen; sie schütteten den Inhalt kleinerer in größere, rührten… Anscheinend mischten sie ein Erfrischungsgetränk für ihre Brüder und Schwestern im Pavillon – kosten wollte allerdings niemand. Jerry fragte sich nur, warum Doktor Schacht, der ihrer Mutter normalerweise sagte, welche Kranken sie zuerst retten sollte, Küchendienst hatte.
Schließlich wurde das Gebräu vom Arzt für gut befunden und in einen bereitstehenden Zinkkübel gegossen. Die Flüssigkeit war rot. Vermutlich Traubensaft, dachte Jerry. Weil sich nun die ganze Prozedur des Mischens wiederholte, blickte sie wieder zur Bühne unter dem erleuchteten Blechdach hinüber.
Der Reverend machte einen seltsam benommenen Eindruck, als er ins Mikrofon ächzte: »Wo ist der Bottich, der Bottich, der Bottich? Wo ist der Bottich mit dem grünen C-Zeug? KCN.«
»C-Zeug?«, murmelte Jerry leise und hielt sich schnell die Hand vor den Mund. Zum Glück hatte sie niemand gehört. Was ist KCN? Und warum sagt der Reverend, das »Zeug« ist grün, wenn es doch rot ist?
Eine Frau aus den Stuhlreihen im Saal sprang auf und rief: »Liebe ist, dahin zu gehen, wo du hingehst. Ich folge, und ich danke dir, Vater.«
»Der Bottich.« Die unablässig aus den Lautsprechern hallende Wiederholung dieser Worte erinnerte Jerry an eine kaputte Schallplatte. Der Reverend musste wirklich großen Durst haben. »Den Bottich mit dem grünen KCN bitte. Bringt ihn her, damit die Erwachsenen beginnen können, es den Babys zu geben. Spritzt es ihnen in die Münder. Tut… Tut, was ich euch sage. Fehlt nicht! Folgt meinen Anweisungen. Es tut euch Leid. Es darf euch Leid tun…«
Jerry wurde aus dem merkwürdigen Brabbeln des Reverend ebenso wenig schlau wie aus seinen sonderbaren Anweisungen. Warum sollte man Spritzen nehmen, um den kleinen Kindern ein Erfrischungsgetränk zu verabreichen? Konnten sie nicht selber trinken? Selbst ein Säugling nahm die Nuckelflasche.
Im Saal wurde es zusehends unruhiger. Die Menschen erhoben sich. Mütter trugen ihre Kinder nach draußen, wo Helfer beim viel beschworenen Bottich standen und ihnen gefüllte Plastikspritzen und Pappbecher reichten. »Richtig so, richtig so«, feuerten einige sie an. Andere Eltern führten ihre größeren Kinder an der Hand. Wieder andere drängten sich in einer Ecke des Pavillons zusammen. Sie schienen keinen Durst zu haben…
Nein, sie fürchteten sich.
Nur wenige Schritte von Jerry entfernt tobte ein Gefühlssturm, der sie ganz durcheinander brachte. Was ging da drüben vor? Warum dieses Getue um einen Kübel mit farbigem Wasser?
Der Reverend sprach den Zaghaften Mut zu: »Habt Vertrauen! Ihr müsst hinübergehen. Wir pflegten zu singen: ›Diese Welt, diese Welt ist nicht unser Zuhause.‹ Ja, das ist sicher. Sie ist es nicht.« Das Schreien von Kindern, deren Mütter ihnen Saft in den Rachen spritzten, ließ den Reverend stocken. Die Kleinen husteten, manche spuckten, aber am Ende schluckten sie das C-Zeug doch. Ungeduldig verlangte Vater Jones: »Kann jemand diesen Kindern begreiflich machen, welches Vergnügen es ist, auf die nächste Ebene hinüberzuschreiten? Das würde den anderen ein Beispiel geben. Ihr bahnt tausend Menschen den Weg, die sagen: ›Wir mögen nicht die Art und Weise, wie die Welt ist…‹«
»Das stimmt. Das ist richtig«, übertönten zahlreiche Rufe die Predigt des Reverend. Erst nach einigen Sekunden konnte Jerry seine Worte wieder verstehen.
»Niemand kann uns unser Leben nehmen, wir haben es niedergelegt, wir sind seiner müde geworden. Wir befürworten keinen Selbstmord. Wir stimmen einem revolutionären Freitod zu, um gegen die Bedingungen einer unmenschlichen Welt zu protestieren… «
Wieder zustimmende Rufe aus der
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