Der silberne Sinn
Halle. Noch immer wehrten sich zahlreiche Kinder gegen den Saft. Ihr Weinen schien den Reverend zu stören, weil er mit einer Geste um Musik bat. Die Orgel setzte ein. Aber die Szene wurde dadurch nicht fröhlicher.
Eine ganze Anzahl Mütter legte sich mit ihren Kindern neben den Pfad. Einige hielten sich den Hals und röchelten schaurig. Der Traubensaft schien ihnen nicht zu schmecken. Kurz darauf schliefen sie ein.
Irgendwo in der Ferne knallte es. Das Geräusch ertönte genau zwischen zwei Akkorden des Kirchenliedes. Unter den Sicherheitsleuten von Jonestown gab es Jäger, und Jerry kannte den Klang eines Schusses. Genauso hatte es sich angehört.
Die Alarmrufe, die Weiße Nacht mit den salbungsvollen Worten des Reverend, sogar der Saft oder die Limonade – all das war Jerry vertraut, wenngleich sie damit auf mütterliche Anordnung ihren Durst nie hatte löschen dürfen. Aber der Schuss gehörte nicht zum Zeremoniell und diese sonderbare Müdigkeit der Leute schon gar nicht. Während das Mädchen zu ergründen versuchte, was die reglos zwischen Bäumen und Büschen liegenden Gestalten fühlten, ob sie schöne oder weniger angenehme Träume hatten, drang etwas Neues und Fremdes in sein Bewusstsein.
Das Nichts.
Seit Jerry denken konnte, freute sie sich mit den Fröhlichen und weinte mit den Traurigen. Aber hier schien jemand die Verbindung zu den Mitmenschen durchschnitten, sie wie eine Telefonleitung gekappt zu haben. Sie konnte sich dieses Wegdämmern der Gefühle zuerst nicht erklären, dieses sachte Ausblenden von Angst oder Leidenschaft, bis nichts mehr blieb. Innerhalb von nur fünf Minuten, bei den Kindern sogar noch schneller, hatten sich empfindsame Menschen in gefühllose Puppen verwandelt. Allmählich ahnte Jerry, was mit den Ärmsten geschehen war.
Das Leben hatte sie verlassen. Sie waren tot.
Natürlich hatte Jerry mit ihren Eltern über den Tod gesprochen. Ihr Vater war ein Meister im Erklären. Bis zu diesem Moment hatte sie das Sterben als eine Art Einschlafen verstanden, das Hinabsinken in einen tiefen Traum, dem nur Gott ein Ende setzen konnte. Aber nun überfiel sie der kalte Schrecken. Warum taten sie das? Weshalb tranken diese Menschen Saft, der ihnen jedes Gefühl aus dem Leib spülte, bis kein Fünkchen Leben mehr übrig war?
Ein Schrei ließ Jerry aufhorchen. Mutter Jones war jetzt an der Reihe. Ihre Rechte lag auf Johns Schulter, die Linke hielt ihn am Arm fest. Der Junge sträubte sich. Jerry musste an die vielen Abenteuer denken, die sie mit ihrem Spielkameraden erlebt hatte. Wusste er, was jenes Hinübergehen bedeutete, von dem der Reverend, angeblich sein Vater, gerade noch gesprochen hatte? Ahnte er, dass es ein Schritt in den bodenlosen Abgrund des Nichts sein würde? Wünschte er sich vielleicht, Timothy Stoen wäre sein richtiger Vater und er könnte jetzt bei ihm und seiner Mutter Grace sein?
Als John die Spritze in Marcys Hand sah, wurde er mit einem Mal still. Jerry wusste, er hasste es, wie ein kleines Kind behandelt zu werden. Trotzig griff er sich einen der Pappbecher, die für die größeren Kinder und die Erwachsenen bereitgestellt worden waren, setzte ihn an die Lippen und…
Nein!
Niemand konnte Jerrys Schrei hören. Keinen Mucks! Das Gebot ihrer Mutter bekam angesichts dessen, was Jerry da mit ansehen musste, ein völlig anderes Gewicht. Es legte sich auf ihre Seele wie die Dielen des häuslichen Verstecks. Es verschluckte ihre Worte, versiegelte ihre Gefühle.
Doch das Versteck im Schlafzimmer hatte einen winzigen Spalt gehabt, einen Blick in das Licht gewährt. Jerry schaute sich um. Sie musste irgendwie hier weg. Im Pavillon wurde es immer unruhiger. Nicht alle wollten der Empfehlung des Reverend folgen und »auf die nächste Ebene hinüberschreiten«. Pauncho und der andere Sicherheitsmann brachten ihre Gewehre in Anschlag. Sie waren abgelenkt. Jerry warf einen letzten Blick auf den Pfad mit den Freiwilligen. Auch Marcy und John waren auf dem Holzweg. Sie schwankten. Dann sank John Victor Stoen zu Boden.
Jerry riss sich von der leblosen Gestalt ihres Spielkameraden los und kroch rückwärts. Drei Schüsse fielen. Diesmal ganz in der Nähe. Paunchos namenloser Partner hatte auf eine alte Frau gefeuert, die aus der Warteschlange vor dem Giftkübel ausgebrochen war, um zu fliehen. Ihre Beine trugen sie nicht so schnell, wie sie wohl erhofft hatte. Von mindestens einer Kugel in den Rücken getroffen, stürzte die Greisin nach vorn und regte sich nicht
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