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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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    Schreie ertönten, Menschen liefen durcheinander, Schemen flohen ins Dunkel hinaus. Weitere Schüsse hallten über das Areal…
    Jerry hielt sich die Ohren zu, aber der Lärm vielhundertfacher Todesangst ließ sich nicht aussperren. Glühende Kohlen schienen sich durch ihren Schädel zu fressen. Sie musste fort von hier, sonst würde er unweigerlich zerplatzen. So schnell sie konnte, lief sie davon. Die Sicherheitsleute hatten alle Hände voll zu tun, für ein geordnetes Sterben zu sorgen. In dem Durcheinander fiel die Fünfjährige nicht weiter auf.
    Nach einem kurzen Sprint sprang Jerry in einen Graben, um einen Moment zu verschnaufen. Die Glut in ihrem Kopf schwelte nur noch. Alles fühlte sich taub an, das Nachdenken fiel ihr unsäglich schwer. In welche Richtung sollte sie fliehen? Pauncho und Johnson hatten die Anwälte des Reverend in den Dschungel geschickt. »Du läufst in den Dschungel. Da wartest du dann, bis Hilfe eintrifft.« War das nicht die Anweisung der Mutter?
    Der Gedanke an die Eltern ließ sich nicht so einfach auf die Seite schieben. Vielleicht suchten sie nach »ihrem Schatz«. Jerry beschloss, noch einmal nach Hause zu laufen. Wenn dort niemand war, dann konnte sie immer noch in den Busch fliehen.
    Sie spähte über den Rand des Grabens. Höchstens zehn Schritte entfernt befand sich eine Werkstatt, in der die Stoffpuppen, Mäuse und Bären hergestellt wurden, die zur Weihnachtszeit im Geschäft von J. P. Santos in Georgetown verkauft wurden. An der Außenwand des Schuppens brannte Licht. Gerade wollte Jerry aus dem Graben kriechen, als sie zu ihrer Rechten eine Bewegung gewahrte. Erschrocken fuhr sie herum und sah…
    »Mr Rhodes?«
    Sie mochte Odell Rhodes, weil der Lehrer die Kinder ab und zu mit kleinen Mitbringseln überraschte, Strandgut aus dem Ozean, verdorrte Frösche und ähnlich aufregende Sachen. Als zukünftige Forscherin konnte Jerry es kaum erwarten, endlich zu ihm in die Schule zu kommen. Jetzt stand ihr der Sinn allerdings nicht nach Unterricht. Mr Rhodes kroch auf sie zu. Ob er…?
    »Keine Angst, ich tue dir nichts«, flüsterte der Lehrer, als habe er die Gedanken des Mädchens erraten. Sein schwarzer Vollbart und die dunkle Hautfarbe erschwerten es, in seinem Gesicht zu lesen.
    »Sie machen mir kein Muffensausen«, versicherte Jerry.
    Der Lehrer lächelte. »Es heißt: Ich habe kein Muffensausen.«
    »Sie auch nicht? Warum sind Sie dann weggelaufen?«
    Mr Rhodes kratzte sich am Hinterkopf, wobei seine bunte, runde Häkelmütze seltsam wippte. »Als Doktor Schacht nach einem Stethoskop verlangte, habe ich mich angeboten, es ihm zu bringen. Dadurch konnte ich mich verdrücken. Habe mich unter einer Hütte versteckt, bis dieses Tohuwabohu losgebrochen ist. Und jetzt fliehen wir in den Dschungel. Komm!« Er streckte den Arm aus, damit Jerry seine Hand greifen konnte.
    »Ich muss zu Mama und Papa«, sagte sie nur, krabbelte aus dem Graben und lief davon.
     
     
    Als Jerry das Bellman Cottage erreichte, stand die Haustür offen. Auf der Veranda verharrte sie einen Moment und spähte in die dunkle Wohnküche. Kein Laut drang heraus.
    »Mama?«
    Das Mädchen dachte nicht darüber nach, in welche Gefahr es sich durch sein weithin hörbares Rufen begab. Die Stille gefiel ihm nicht. Zögernd betrat es die finstere Hütte.
    »Papa?«
    Keine Antwort. Jerry versuchte das Licht einzuschalten, aber es funktionierte nicht. Stromausfälle waren in Jonestown normal. Seltsam nur, dass die Beleuchtung des Gästehauses immer noch brannte.
    Mit leisen Schritten durchquerte Jerry den menschenleeren Raum. Keinen Mucks! Galt das auch für die Eltern? Die Tür zum Schlafzimmer war angelehnt. Jemand musste hier gewesen sein. Behutsam drückte Jerry dagegen. Mit leisem Quietschen schwang die Tür auf.
    In dem schwachen Licht, das vom Nachbarhaus durchs Fenster fiel, konnte sie nicht viel erkennen, aber sie wusste dennoch sofort – die Person auf dem Bett war ihre Mutter.
    Wie versteinert starrte das Mädchen auf die reglose Gestalt. Es wünschte, die innere Taubheit würde endlich wieder von ihm abfallen. So unerträglich ihm die Todesangst so vieler Menschen auch erschienen war, so wenig verstand es die unheimliche Stille: Warum hörte es den Klang der Liebe seiner Mutter nicht mehr?
    »Mama?«, wiederholte Jerry leise.
    Ihre Mutter rührte sich nicht.
    Langsam näherte sich Jerry dem schwach schimmernden Messinggestell. Sie wich dem schmalen Loch im Fußboden aus. Hatte sie die drei Bretter

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