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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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nicht beiseite geschoben? Jetzt lagen sie, bis auf eines, wieder an ihrem Platz. Jerry tastete sich vorbei an dem Stuhl, der noch genauso vor dem Fenster stand, wie sie ihn am frühen Abend verlassen hatte, bis zum Kopfende des Doppelbettes. Sie beugte sich vor und nahm die Hand ihrer Mutter.
    Sie war eiskalt.
    »Mama, bitte wach auf!«, wimmerte das Mädchen und schob erst das eine, dann das andere Knie aufs Bett. Es drückte den Kopf seiner Mutter an die Brust und streichelte ihre Wange. Einen Moment glaubte Jerry, die offenen schwarzen Augen der Schlafenden würden sie anblicken, aber dann sah sie den dunklen Fleck auf der Brust ihrer Mutter. Er glänzte feucht im matten Licht. Aus Jerrys Erinnerung stieg ein Geräusch auf, der ferne Klang eines Schusses zwischen zwei Akkorden einer Orgel. Dicke Tränen schossen ihr in die Augen, ihr Mund öffnete sich, wollte die ganze Trauer hinausschreien…
    Als plötzlich ein Schatten durch den Raum huschte.
    Jerry erkannte sofort, dass es nicht ihr Vater war, denn der hatte keine Glatze.
    Sie kroch wieselflink rückwärts, ließ sich vom Bett gleiten und lief auf den Stuhl zu. Doch bevor sie das Ende des Bettes erreichen konnte, drängte sich schon Eugene Smith in den schmalen Gang zwischen Wand und Rohrgestell. Er bückte sich, umfasste ihre Taille und riss sie vom Boden hoch.
    Jerry schrie aus Leibeskräften.
    »Halt deine Klappe!«, zischte Eugene.
    Sie kreischte wie am Spieß.
    »Sei still, dann passiert dir nichts! «
    Warum sollte sie ihm glauben? Sie brüllte weiter. Er hatte ihre Mutter erschossen! Das Mädchen zappelte, trat, schlug mit den Fäusten um sich – bis plötzlich eine Messerklinge vor seinen Augen aufblitzte.
    »Wenn du nicht gleich ruhig bist, schlitze ich dir die Kehle auf.«
    Jerry spürte kalten Stahl am Hals. Sie hob unvermittelt die Beine und stieß sich mit aller Kraft von der Wand ab.
    Eugene verlor das Gleichgewicht, sein linker Fuß stieß gegen das Bettgestell. Um nicht nach hinten zu kippen, drehte er sich, wendig wie er war, nach links, was seinem rechten Bein hinter dem Bett einen festen Stand ermöglicht hätte – wäre da nicht das Versteck gewesen.
    Mit dem ganzen Gewicht seines Halt suchenden Körpers trat er auf die lose Diele. Wie ein Katapult schnellte das Brett nach oben und traf Eugene einen Sekundenbruchteil später im Rücken. Dem Schlag folgte ein hässliches Knacken, als sein rechtes Bein brach. Eugene stürzte vornüber, das zappelnde Mädchen rutschte ihm aus dem Arm. Im Fall krachte Eugenes Kopf gegen einen Messingknauf des Bettes, und der Mann sank wie ein nasser Sack zusammen.
    Jerry zog sich unter dem schweren Leib hervor, der sie halb begraben hatte. Ihr Hals fühlte sich merkwürdig warm an. Als sie der Nässe nachspürte, die unter dem Regenparka ihre Brust herabrann, ertastete sie eine lange Wunde an der Kehle. Das Blut floss wie Wasser aus einer undichten Regenrinne. Wenn du nicht gleich ruhig bist, schlitze ich dir die Kehle auf. Um Haaresbreite hätte Eugene seine Drohung doch noch wahr gemacht.
    Das Mädchen blickte auf den Körper des besinnungslosen Mannes. Eugenes Bein steckte noch im Dielenspalt, es war grotesk abgewinkelt. Über seinem linken Auge sickerte Blut aus einer Platzwunde.
    Der Anblick des Blutes erinnerte Jerry an etwas, das sie bei ihrer Mutter gelernt hatte: Jede Wunde muss versorgt werden – Sauberkeit ist dabei oberstes Gebot.
    In mancherlei Hinsicht war Jerry ein außergewöhnliches Mädchen, geprägt von der täglichen Nähe einer Mutter, die auf medizinische Notfälle stets mit Besonnenheit reagierte. Wie Rachel es getan hätte, eilte Jerry in die Wohnküche, um sich Verbandszeug und Jod zu holen. Wohl nicht allein das mütterliche Vorbild trieb sie an, sondern mindestens ebenso der im Schlafzimmer erlebte Schrecken, vor dem sie davonzulaufen versuchte. Wie auch immer – es rettete ihr das Leben.
    Sie rannte, ohne zu überlegen, zum Gästehaus, wo es ein Badezimmer gab. Dort, vor dem Spiegel, wiederholte das Kind, was es seine Mutter im Krankenhaus schon unzählige Mal hatte tun sehen: Es reinigte in aller Eile die Wunde, träufelte die rote Tinktur auf ein sauberes Tuch, betupfte trotz der Schmerzen damit großzügig den Schnitt und wickelte sich anschließend einen Verband um den Hals. Dann lief Jerry auf direktem Weg in den Busch.
    Es war noch dunkel, als der Himmel über Jonestown zu beben begann. Genau so empfand Jerry das dumpfe Rattern aus der Ferne. Sie kroch ein Stück weit aus

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