Der silberne Sinn
Höhlen des Orion, und lassen Sie Mr Leary den Wissensdurst seines Brötchengebers stillen. Nur damit wir uns richtig verstehen: Ich brauche Sie beide in diesem Unternehmen. Wenn Sie sich an meinen Rat halten, dann werden Sie sich auch nicht in die Quere kommen.«
Zuletzt hatte McFarell beinahe väterlich geklungen. Yeremis Ängste und Zweifel wirkten im Lichte seiner beruhigenden Worte gar nicht mehr so bedrohlich. Sie seufzte. »Also gut, Stan. Ich mache mit. Das Projekt wird nicht unter meiner Fehde mit Al leiden, das verspreche ich Ihnen.«
Während sie dies sagte, funkelte sie Al Leary an wie ein in die Enge getriebenes Jaguarweibchen.
DIE BEGEGNUNG
Georgetown (Guyana)
16. Oktober 2005
14.12 Uhr
Im Kabinenfenster der Boeing 737-800 wanderte der Strand wie ein weißer Riesenwurm vorbei. Eine winzige Karte der Küstenlinie von Guyana spiegelte sich in braunen Augen – ohne tatsächlich wahrgenommen zu werden. Yeremis Bewusstsein empfing nur klamme Gefühle und zauberte, dazu passend, längst vergessen geglaubte Bilder hervor. Sie schlang die Hände ineinander und presste sie in den Schoß, damit das Zittern aufhörte. Flashback. So nannten die Psychologen das Gefühl, ein traumatisches Erlebnis wiederhole sich. Yeremi bohrte sich die Fingernägel ins eigene Fleisch, um die Halluzinationen mit Schmerz zu vertreiben, aber es half nichts. Sie schloss die Augen. Das Gedächtnisstroboskop drehte sich dadurch nur noch schneller. Schlaglichtartig flackerten Bilder auf: ein gerodetes Waldstück, Hütten und Leichen, die überall herumlagen wie Stäbe in einem makabren Mikadospiel.
Yeremi schüttelte verzweifelt den Kopf. Sie musste sich auf etwas Positives konzentrieren. Bald durfte sie wieder durch den »Garten Gottes« streifen, den tropischen Regenwald mit allen Sinnen erfahren. Sie würde Irma Block hübsche Motive zeigen und vielleicht sogar einem bisher wenig bekannten Indiovolk begegnen – von den Atorad-Indianern gab es ja allerlei blutrünstige Geschichten…
»Bist du okay, Yeremi?«
Sie wandte den Kopf auf einem merkwürdig steifen Hals zu ihrer Nachbarin und öffnete die Augen. Im Gesicht der Fotografin spiegelte sich Sorge. Yeremi zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. »Ja, ja, alles bestens.«
Blocks Augen blickten kurz nach unten, dann wieder in Yeremis Gesicht. »Und warum kratzt du dir dann die Hände blutig?«
Erst jetzt bemerkte Yeremi die Schrammen. »Das… Das ist eine andere Geschichte, Irma, die nichts mit unserer Expedition zu tun hat – und schon gar nichts mit deinem Magazin.«
»Was soll das denn jetzt heißen? Das National Geographic ist mein Job, aber du bist meine Freundin. Jedenfalls habe ich das bis eben gedacht.«
Yeremi wandte sich wieder dem Fenster zu. Sie war sich nicht sicher, ob sie ebenso empfand. »Manche Dinge können eine Freundschaft auch belasten.«
»Du hast Recht: Wenn man sie unausgesprochen lässt.«
Yeremi deutete durch das Kabinenfenster. »Da unten ist der Flughafen.«
Der Pilot setzte die Maschine mit der Flugnummer 425 der BWIA ruppig und mit halbstündiger Verspätung auf. Ein dankbares Publikum applaudierte. Aus den Kabinenlautsprechern drangen leiernd letzte Anweisungen: Gurte bis zum Erreichen der endgültigen Parkposition angeschnallt lassen, Zeitmesser auf vierzehn Uhr fünfundzwanzig Ortszeit und Schweißdrüsen auf feuchte zweiunddreißig Grad Celsius einstellen, beim nächsten Flug nicht vergessen, wieder die Airline von Trinidad und Tobago zu buchen, schönen Urlaub verbringen oder erfolgreiche Geschäfte tätigen…
Von den Gesichtern der Wissenschaftler konnte man die Strapazen der Reise ablesen. Die meisten Mitglieder des Expeditionsteams waren am Vortag um fünfzehn Uhr fünfzig mit einer Maschine der Continental Airlines von San Francisco nach New York geflogen. Als man kurz nach Mitternacht in Newark landete, dachte niemand ans Schlafen. Bereits um sieben Uhr fünfzehn würden sie wieder in einem Flieger sitzen und vom John F. Kennedy Airport aus in Richtung Guyana starten. Die akademische Zweckgemeinschaft heuerte zwei Taxis an und ließ sich nach Manhattan fahren. Die Yellow Cabs hielten vor einem Club in der Bleeker Street. Hier wurde Abschied genommen von jenem Teil der Welt, in dem Riesenschlangen und Spinnen durch Glasscheiben von der Menschheit getrennt waren. Die Rechnung zahlte Doktor Norryl Unsworth, ein kleiner, untersetzter, ausgesprochen agiler Mittvierziger, der als Pharmakologe in
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