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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Regierung des Gastlandes angesehen werden. Der Ministeriumsmitarbeiter war indianischer Abstammung, klein und stämmig, besaß dunkelbraune, listige, eng beieinander liegende Augen, einen schier unerschöpflichen Vorrat an Zigarren sowie einen Hang zu lästigen Fragen. Außerdem neigte er zur Selbstüberschätzung.
    Über Al Leary nachzudenken gewöhnte sich Yeremi gerade ab. Es würde nicht leicht werden.
    Sie faltete den Bogen mit der Namensliste zusammen und verstaute ihn im Rucksack. Das Telefon neben ihrem Bett klingelte.
    »Ja?«
    Aus dem Hörer erklang, von lautem Knistern begleitet, die Stimme Irma Blocks. »Die Taxis sind da. Kommst du?«
    »Bin sofort unten.«
    Vier Minuten später klemmte sie, eingekeilt zwischen Irma Block und Abbatissa Hamilton-Longhorne, den Blick starr auf Norryl Unsworth’ schweißtriefenden Nacken gerichtet, in einem alten Toyota, der mit überhöhter Geschwindigkeit dem Flughafen entgegenraste. Der Fahrer verfolgte einen Kollegen, der die zweite Hälfte des Teams in Angst und Schrecken versetzte. Aufgrund glücklicher Umstände erreichte die Expeditionstruppe die Abfertigungshalle unversehrt.
    Dave Clarke, ein großer, schlaksiger Mann mit braunem Haar und sauber gestutztem Vollbart, erwartete sie schon. Grienend näherte er sich dem schwitzenden Haufen. Der etwa fünfundvierzigjährige Botaniker trug braune, grobstollige Boots, Bluejeans und ein hauptsächlich aus Taschen bestehendes khakifarbenes Baumwollhemd. Auf seiner Nase saß ein dünnes silbernes Brillengestell. Wie Yeremi inzwischen wusste, redete er nur, wenn es ihm unausweichlich erschien, obgleich man ihm nachsagte, er führe gelegentlich Zwiegespräche mit Pflanzen. Sein Mienenspiel war ein unablässiger Wechsel zwischen Versonnenheit und – scheinbar – unmotiviertem Schmunzeln. Yeremi fragte sich, ob es die Unzulänglichkeiten seiner Mitmenschen waren, die ihn so oft erheiterten. In den letzten beiden Tagen hatte sich der Botaniker in ihrem Ansehen um mehrere Stufen nach oben gearbeitet. Als der guyanische Zoll, trotz korrekter Papiere, die Expeditionsausrüstung nicht freigeben wollte, fand Clarke genau den richtigen Ton und das passende Schmiergeld, um die Formalitäten schnell und unbürokratisch zu regeln. Auf das anerkennende Schulterklopfen seiner Kollegen hin meinte er bescheiden, er habe vor sechs Jahren schon einmal die Gegend um die Wassarai-Berge besucht und kenne sich eben mit den hiesigen Gepflogenheiten aus.
    »Wie sieht’s aus, Dave?«, fragte Yeremi, als der Botaniker die Gruppe auf das Rollfeld hinausführte.
    »Dem Piloten hat noch eine Genehmigung gefehlt, aber jetzt ist alles klar. Es kann losgehen.«
    »Wie viel?« Yeremi rieb Daumen und Zeigefinger aneinander.
    Clarke grinste. »War ganz umsonst. Nach einem Telefonat von Mr Sose hat der gute Mann gespurt. Unser Minister sitzt schon im Vogel.«
    »Es wäre vielleicht angebracht, diesen Titel nicht in Mr Soses Gegenwart zu gebrauchen.«
    »Keine Sorge, ich werde ihn korrekt mit Eure Majestät ansprechen.«
    Argwöhnisch blickte Yeremi zu der irgendwie seltsam anmutenden Propellermaschine hinüber, auf die Clarke geradewegs zusteuerte. »Haben Sie nichts anderes auftreiben können? Das Ding sieht aus, als würde es noch in der Pubertät stecken – es ist so dünn, spitz und… übermotorisiert.« Ihre letzte Feststellung bezog sich auf das dritte Triebwerk am hinteren Seitenstabilisator, das den Eindruck vermittelte, die Maschine werde entweder vor dem Start nach hinten kippen oder kurz danach entzweibrechen.
    Clarke schmunzelte, vermutlich hielt er Yeremis Einschätzung für typisch weiblich. »Das ist eine Britten-Norman BN-2 Mk. III-2 Trislander, ein sehr zuverlässiger Typ. Und was den Rotor am Seitenleitwerk betrifft, der wird dem Piloten noch sehr nützlich sein, wenn er sein Baby im Dschungel wieder in die Luft bekommen will, ohne in den Baumkronen hängen zu bleiben.«
    Der Botaniker ließ Yeremi mit dem Hinweis allein, er wolle noch einen Blick in den Laderaum werfen. Sie schob den Riemen des zweiten Rucksacks auf ihrer Schulter zurecht und lief mit den anderen zur Einstiegsluke hinüber. Über der Piste flirrte die Luft, obwohl es erst zehn Uhr morgens war.
    Wenige Minuten später hob die Trislander mit dröhnenden Motoren vom Rollfeld des Timheri Airport in Richtung Atlantik ab. Kurz darauf schwenkte sie nach Süden. Das Ziel des etwa dreistündigen Fluges hieß Gunn’s Strip, eine Siedlung, in der ungefähr zweihundertfünfzig

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