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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Augen übten auf sie eine Faszination aus, die ihren Argwohn weckte. Die schrecklichen Momente der vergangenen Nacht steckten ihr noch in den Knochen. Sollte er nur versuchen, sie zu manipulieren! Er würde auf Granit beißen.
    »Ich weiß, es muss schmerzlich für Sie sein«, sagte sie, äußerlich beherrscht, »aber wir würden gerne mehr über die Frau erfahren, das Opfer des schwarzen Jaguars.«
    Sarafs Augen ruhten auf ihrem Gesicht, während Wachana übersetzte. »Woher weißt du, dass es für mich schmerzlich ist?«, fragte der Waldläufer zurück.
    Yeremi sah ihre Kollegen Hilfe suchend an, aber niemand sprang ihr bei. »Nun«, begann sie zögernd, »wir haben es alle erlebt. Im Traum.«
    »Ist das wahr?«, erwiderte Saraf und blickte in die Runde.
    Für Yeremi wurde das Gespräch immer beunruhigender.
    Lytton holte tief Luft, öffnete den Mund, schloss ihn wieder und schüttelte nachdenklich den Kopf. Endlich sagte er: »Ich habe gesehen, wie Saraf Argyr sich um Sie bemühte, Yeremi. Er hätte sein Leben gegeben, um das Ihre zu retten. Aber ich vermag nicht zu sagen, was ihn dazu getrieben hat.«
    Leary, Abby und Sose stimmten dieser Einschätzung zu.
    Saraf wartete ruhig die Übersetzung des Indianers ab und nickte, offenbar zufrieden mit dem, was er gehört hatte. Hierauf wandte er sich wieder Yeremi zu und begann leise zu sprechen. Ein sichtlich bewegter Wachana übertrug den tragischen Bericht anschließend ins Englische.
    »Du hast Recht, Yeremi Bellman. Mein Herz ist angefüllt mit Schmerz. Fama, die nun im Haus der Toten wohnt, war guter Hoffnung. Sie wollte sich zum Gebet an den Ort begeben, den Wachana Blaufrosch-Hügel nennt. Bei uns trägt er den Namen ›Ajugas Thron‹. Sie brach bei Mondlicht auf, wie es die alten Gesetze vorschreiben. Als ich ihr Fehlen bemerkte, machte auch ich mich auf den Weg zum Thron des Ajuga. Aber ich kam zu spät. Der Jaguar griff sie an, während sie unter dem großen ahuehuete im Gespräch mit Gott am Boden kniete. Mit einem Sprung hat der schwarze Jäger sie getötet. Ihr Kind wird nie das Licht der Welt erblicken. Nachdem ich Fama zur Ruhe gebettet und das Totengebet für sie gesprochen hatte, machte ich mich an die Verfolgung des Mörders. So verlangt es unser Gesetz.«
    Yeremi konnte nicht sogleich antworten. Schließlich sagte sie: »Es tut mir sehr Leid, Saraf. War sie… War Fama Ihre Ehefrau?«
    »Ich hätte dasselbe für jeden von uns getan«, antwortete der Waldläufer nur. Wieder fühlte sich Yeremi unfähig, weiter in ihn zu dringen. Sie beschloss, das Thema zu wechseln.
    »Arawakisch scheint nicht Ihre Muttersprache zu sein. Von wem haben Sie sie gelernt?«
    »Früher haben wir die anderen Bewohner des Waldes hin und wieder besucht. Sie schätzten unseren Rat und unsere Hilfe. Wir tauschten uns gerne mit ihnen aus – mit offenen Händen und offenem Geist.«
    Yeremi sah den Dolmetscher an. »Wie steht’s mit dir, Wachana. Kannst du dich noch an diese Zeit erinnern?«
    Der Indianer schüttelte den Kopf.
    »Aber man begegnet doch nicht alle Tage weißen Waldbewohnern. Ich habe eines eurer Feste miterlebt. Da wird viel erzählt. Es müsste doch irgendjemand davon berichtet haben.«
    »Als ich ein Kind war, hat mir unser Schamane von den Geistern erzählt, die an den Quellen des Kamoa hausen. Seit vielen Generationen schon meidet das Volk der Wai-Wai diese Gegend.«
    »Hat euer Schamane diese Geister beschrieben?«
    Wachana nickte. »Er sagte: ›Sie leuchten im Mondlicht wie Silber.‹«
     
     
    Der Mond hing wie eine riesige Opferschale am Nachthimmel. Unter ihm wogte ein Meer von Geräuschen. Aus dem Tiergeschrei und Blätterrascheln des Dschungels erhob sich unvermittelt ein Laut, der Yeremi aufhorchen ließ. Es war ein Knurren, so tief, dass sie es nicht nur hören, sondern auch im Bauch spüren konnte.
    Das silberne Himmelsgefäß stand nun über einem Berg – man konnte glauben, es solle dort ausgeschüttet werden –, als auf der Kuppe eine schwarze Silhouette auftauchte.
    Ein Jaguar!
    Yeremi erschrak. Wie versteinert starrte sie auf den Schattenriss, der vor dem Mond zu wachsen begann. Während ihre Augen den sich mit unglaublicher Geschwindigkeit nähernden Jäger verfolgten, bemerkte sie das Unfassbare. Drei, sechs, neun – immer mehr Raubkatzen schlossen sich dem Leittier an. Eine ganze Meute stürmte vom Berg herab auf Yeremi zu, die dem Verhängnis nur bewegungslos entgegenblickte.
    Plötzlich wuchs eine hünenhafte Gestalt vor der

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