Der silberne Sinn
Gabe inne, von der wir nur noch eine schwache Ahnung haben, weil sie zu verkümmert ist.
Oder wir benötigen pharmakologisch bestimmbare Substanzen wie Telepathin, um sie neu anzuregen. Wir sind ja nicht in diese Waschküche gereist, um Bekanntes zu bestätigen, sondern Unerklärliches zu erforschen. Unser Ziel ist es, empathische Telepathen zu finden, Menschen also, deren Fähigkeiten die unsrigen weit übersteigen.«
Das Gebäude aus Skepsis und Voreingenommenheit, in dem Yeremi sich bisher verschanzt hatte, bekam Risse. Ohne die bisherige Schärfe fragte sie: »Und du glaubst ernsthaft, Saraf Argyr könnte ein solcher Mensch sein?«
Al Leary sah sie offen an und nickte langsam. »Ja, Jerry. Je länger ich über den heutigen Tag nachdenke, desto fester bin ich davon überzeugt.«
Doktor Lytton war verblüfft. Er konnte förmlich beobachten, wie sich Sarafs Zustand besserte. Schon am Morgen nach dem Kampf setzte er sich auf. Am Nachmittag lief er sogar zum Fluss hinab, um seinen Durst zu stillen. Keine der Wunden hatte sich entzündet, was der Arzt allerdings dem verabreichten Antibiotikum zuschrieb. Für die medizinisch nicht vorgebildeten Expeditionsteilnehmer fasste Lytton seine Beobachtungen in einfachen Worten zusammen: Saraf Argyr besitze die Lebenskraft von einem Dutzend Menschen, und die Reparaturwerkstatt in seinem Körper sei so gut in Schuss, wie er es noch nie zuvor bei irgendjemandem erlebt habe.
Diese Erklärung stellte auch die Wai-Wai-lndianer zufrieden. Zwar hatte Wachana seine Stammesbrüder von einer kopflosen Flucht zurückhalten können, aber sie mieden Saraf. Der weiße Dschungelmann war ihnen nicht geheuer.
Um sich bei den Wai-Wais als Fürsprecherin des rätselhaften Waldläufers zu verwenden, musste selbst Yeremi über den eigenen Schatten springen, wenn auch aus gänzlich anderen Motiven. Sie schreckte der Gedanke, einem Mann mit empathischer Gabe ausgeliefert zu sein. Schon die Vorstellung, Saraf könne in den Gefühlen anderer Menschen wie in einem Tagebuch lesen, war für sie beängstigend. Aber was, wenn er darin sogar zu schreiben vermochte…?
Auf Drängen des Arztes ließ Yeremi ein provisorisches Lager am Flussufer aufschlagen. Er wolle erst abwarten, bis sich der Gesundheitszustand seines Patienten ausreichend stabilisiert habe, erklärte Lytton. Der Mediziner war augenscheinlich fasziniert von dem Waldläufer und wollte sein Studienobjekt so schnell nicht wieder verlieren. Der Hauptsponsor und der wissenschaftliche Initiator der Expedition – Flatstone und McFarell – begrüßten diese Entwicklung. Über Satellitentelefon forderten sie Yeremi und Leary ausdrücklich auf, die ethnische Herkunft des Waldläufers und die Hintergründe seines Auftauchens im Wassarai-Gebiet zu klären. Sollte er tatsächlich ein Angehöriger des gesuchten Volkes sein, dann lohne sich die außerplanmäßige Verzögerung allemal.
Während Wachanas Stammesbrüder Zelte errichteten und im Dschungel nach Hokkohühnern jagten, begann für ihn selbst eine anstrengende Zeit. Der stämmige Indianer war ein Fährtensucher und Jäger. Auf der bisherigen Reise hatte er selten mehr als das Allernötigste gesagt. Doch in seiner neuen Eigenschaft als Dolmetscher musste er reden wie ein Wasserfall. Die Forscher hätten entschieden zu viele Fragen, beschwerte er sich wiederholt. Niemand achtete auf ihn.
Saraf Argyr gab herzlich wenig von sich preis. Ein paar Details über die Jagd nach dem Jaguar, aber Yeremi, Leary, Abby, Sose und Lytton erfuhren trotz unermüdlichen Fragens weder, wo und wie groß seine Sippe war, noch welche Stellung er darin einnahm. Obwohl Saraf die Scheu schnell abgelegt hatte, blieb er sehr zurückhaltend. Ja, er umgab sich mit einer kaum zu durchdringenden Aura. Yeremi brauchte lange, um sich seiner unterschwelligen Stärke überhaupt bewusst zu werden, welche die Forscher davon abhielt weiterzufragen, wenn sie von Saraf nur eine knappe Antwort erhielten. Es war, als warne sie ihr Gefühl davor, ein Tabu zu brechen und damit das dünne Band zwischen ihnen und diesem besonderen Menschen zu zerreißen. Solcherlei Empfindungen entstanden nur im persönlichen Gespräch mit Saraf. Als Yeremi das mit ihrem tragbaren Computer aufgezeichnete Interview später noch einmal anhörte, spürte sie nichts mehr davon.
Sie hatte sich während der Unterhaltung alles andere als wohl gefühlt. Saraf wandte sich meistens direkt an sie, auch wenn er anderen eine Frage beantwortete. Seine klaren
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