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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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»Was, um Himmels willen, ist hier los? Seid ihr komplett übergeschnappt, oder soll das ein Scherz sein, den ich nicht kapiere?«
    Clarke schüttelte erneut den Kopf. »Ich kann mir das selbst nicht erklären, Yeremi, aber wie es aussieht, haben wir alle dasselbe geträumt.«
    Wachana erhob sich mit einer Geste, als wolle er einen Fluch abwehren. »Ja«, flüsterte der Indianer, und seine Stimme bebte. Ohne den Blick von dem Verletzten zu nehmen, murmelte er: »Und es war Sarafs Traum.«
    »Nun beruhige dich doch, Jerry. Glaubst du tatsächlich, der Aberglaube der Wai-Wais könnte mich auch nur im Geringsten beeindrucken? Nein, wir haben es hier mit einem Phänomen zu tun, für das es eine wissenschaftliche Erklärung geben muss.« Al Leary war zu nervös, um wie die anderen am Lagerfeuer zu sitzen. Er lief hin und her, eine Hand in der Hosentasche, die andere zur Abwehr von Blutsaugern ständig in Aktion.
    Die Wissenschaftler Irma Block und Thomas Sose hielten ihre nächtliche Beratung nicht von ungefähr an diesem Ort – genau zwischen den Kanus und den Indianern. So ließ sich wenigstens der Diebstahl der Boote verhindern. Denn die Wai-Wai-Indianer waren von Furcht befallen. Der »Chor der Träume«, wie sie die gemeinschaftliche Erfahrung der Nacht nannten, könne nur ein böses Omen sein. Einige rieten sogar zur Umkehr. Yeremi und Dave hatten ihre ganze Überzeugungskraft einsetzen müssen, um Wachana die Angst vor dem »weißen Geist« auszureden. Nun erläuterte der Anführer seinen verängstigten Stammesbrüdern die Vorzüge eines an den Erfolg der Expedition geknüpften Bonus.
    Yeremi nutzte die Zeit, um im Kreis ihrer Kollegen nach sinnvollen Erklärungen für das Erlebte zu suchen. Sie saß neben dem Feuer und spürte die Hitze nicht einmal. »Wenigstens von dir als Psychologen hätte ich eine Idee erwartet«, beklagte sie sich bei Leary.
    Der stellvertretende Expeditionsleiter warf die Arme in die Höhe. »Niemand von uns hat je so etwas erlebt. Es könnte vielleicht…« Er kratzte sich am Kopf.
    »Ja?«
    »Physiologischer Synchronismus.«
    Yeremi klatschte sich die Hand an die Stirn. »Natürlich! Damit ist alles klar.«
    Abby warf ihr einen strafenden Blick zu, um sich daraufhin an Leary zu wenden. »Könnten Sie uns das noch etwas genauer erklären, Al?«
    Der Psychologe blieb stehen, schlug nach einem Insekt in seinem Nacken und holte dann zu einer umfassenden Erklärung aus.
    Wenn er seine Worte sorgsam wählte, war seine Redeweise stets schleppend. »Physiologischer Synchronismus hat nichts mit Zauberei zu tun. Er beruht auf dem engen Zusammenspiel zwischen Seele und Körper oder, präziser ausgedrückt, zwischen den menschlichen Emotionen und seinen physiologischen Reaktionen. Gewissermaßen ›reden‹ unsere Nervensysteme miteinander. Man nennt dieses Phänomen auch ›Spiegelung‹: Wenn ein Mensch starke Gefühle entwickelt – Hass, Ärger, Freude oder auch Furcht –, dann können sich diese auf eine andere Person übertragen. Erstaunlicherweise zeigt der ›Empfänger‹ der Spiegelung, je nach Art des Gefühls, genau die gleichen Symptome wie der ›Sender‹: beschleunigten Pulsschlag, erhöhte Atemfrequenz, vermehrte Transpiration, Ausschüttung von Stresshormonen wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol – das volle Programm.«
    Eine längst verloren geglaubte Erinnerung schwebte durch Yeremis Bewusstsein: Sie hatte im Schlafzimmer ihrer Eltern in eine Grube steigen sollen, sich aber gefürchtet. Erst als ihre Mutter sie umarmte, war sie ruhiger geworden, weil ihrer beider Herzen im Gleichklang schlugen. Yeremi glaubte zu verstehen, worauf Leary hinauswollte.
    »Was du sagst, kann ich nachvollziehen, Al. Aber funktioniert dieser physiologische Synchronismus nicht nur dann, wenn man sein Gegenüber sieht oder seine Gefühle wie mit eigenen Sinnen wahrnehmen kann? Das war bei uns nicht der Fall. Wir haben geschlafen. Und der Waldmann wohl ebenso. Wie konnte er da seine Ängste auf uns projizieren?«
    Leary schüttelte den Kopf und hob schließlich die Schultern. »Ich weiß es nicht. Du wolltest von mir einen möglichen Erklärungsansatz für den kollektiven Traum, und den habe ich dir geliefert. Tatsache ist, die Einfühlung hat ganz entschieden eine körperliche Komponente. Einige meiner forschenden Kollegen definieren die Empathie sogar als ›einen Zustand des vegetativen Nervensystems mit der Neigung, das einer anderen Person zu stimulieren‹. Möglicherweise wohnt uns allen eine

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