Der silberne Traum - Die Chroniken der Nebelkriege ; 4
Fi eingehend. »Du bist ja gar kein Elf. Du bist eine Elfe! Wieso hast du dich der Mannschaft gegenüber als Junge ausgegeben?«
»Habe ich das?« Fi richtete sich nun endgültig auf und besah sich ihre durchnässte Kleidung. Sie trug eindeutig Männersachen. Schlichte Stiefel, eine abgewetzte Lederhose sowie eine graue Weste mit Fellbesatz über einem zerschlissenen Hemd, das an ihrem Oberkörper klebte und ihre weiblichen Rundungen zum Vorschein kommen ließ.
»Ich kann dir die Frage nicht beantworten.« Fi ächzte. »Ich soll Teil der Mannschaft sein? Seit wann?«
»Herrje, das ist doch jetzt völlig egal«, brauste der Vogel auf. »Seit Koggs und seine Männer dich an der Küste Albions aufgelesen haben. Vor einer Woche oder so. Ein Elf in den Menschengebieten ist schließlich keine Alltäglichkeit in Albion. Koggs und ich kamen leider nicht dazu, uns länger über dich zu unterhalten, denn kurz nachdem ich meine Botschaft überbracht hatte, hat uns diese Sirene überrascht. Immerhin«, die Möwe reckte den Hals, »das erklärt zumindest, warum wir nicht dem Sirenengesang zum Opfer gefallen sind. Wir zwei sind eben keine Männer, ha. Aber die kann man sowieso nicht lange allein lassen. Da kommt nie was Gutes bei raus.«
Fi hatte sich also als Junge ausgegeben. Ohne zu wissen warum, spürte sie, dass es wichtig war, ihr wahres Geschlecht zu verbergen. Überaus wichtig. Es kam ihr so vor, als wäre die Tarnung schon lange zu ihrer zweiten Natur geworden. Einen Moment lang blitzten vereinzelte Bilder in ihrem Gedächtnis auf, Erinnerungen an eine Flucht. Doch bevor sie danach greifen konnte, waren sie auch schon wieder verflogen.
»Mein Kopf kommt mir wie leer gefegt vor.« Fi ballte verbittert die Fäuste. »Ich wäre dir daher dankbar, wenn auch weiterhin niemand erfährt, dass ich eine Elfe bin. Versprichst du mir das?«
Die Möwe rollte ungeduldig mit den Augen. »Meinetwegen.«
»Mein Name ist Fiadora. Aber meine Freunde nennen mich Fi.« Wenigstens daran erinnerte sie sich. Nur wer waren ihre Freunde? »Ich stamme aus Lunamon.«
»Lunamon?« Die Möwe stieß ein Krächzen aus, das eher einem Seufzen ähnelte. »Das tut mir leid für dich. Wie man hört, hat Morgoya die Heimat deines Volkes dem Erdboden gleichgemacht. Auch alle Rückzugsorte, an denen die Ritter von König Drachenherz in den letzten Jahren noch Widerstand leisteten, sind gefallen. Die Insel ist jetzt vollkommen in ihrer Gewalt.«
Bei der Erwähnung der Nebelkönigin Morgoya, die die Macht über Albion gewaltsam an sich gerissen hatte, zuckte Fi unwillkürlich zusammen. Und als wäre mit der Nennung der unheimlichen Zauberin ein Damm gebrochen, stiegen vor ihrem geistigen Auge plötzlich die Bilder von brennenden Bäumen, rauchenden Ruinen und geflügelten Schatten auf, die vom Nachthimmel auf Lunamon herabstießen. Die Schreie sterbender Elfen hallten leise in ihren Ohren und sie glaubte sogar, den beißenden Qualm der Feuersbrünste riechen zu können.
»Kannst du mir sagen, wie lange das her ist?«, fragte sie gequält.
»Neunzehn Jahre.«
»Neunzehn Jahre?« Fi wankte zurück und stieß gegen die Schiffswand. Ihr kam es vor, als wäre sie erst gestern Zeuge des Angriffs auf ihr Volk gewesen. Oder vielleicht vor einem Monat. Aber neunzehn Jahre? Verzweifelt lauschte sie in sich hinein, doch da waren nur weitere unzusammenhängende Erinnerungsfetzen. Ausgemergelte Elfen in einer Höhle. Peitschen, die auf blanke Rücken niedersausten. Ein Bergwerk? Fi blinzelte. Abermals stieg die Erinnerung an eine Flucht in ihr auf. Eine lange Flucht. Kämpfe. Unzählige erbitterte Kämpfe. Entbehrungen. Schließlich das Gesicht eines langhaarigen Elfen, der ihr Mut zusprach und ihr die Hand reichte. Doch der Strom der Bilder riss ebenso unvermittelt ab, wie er gekommen war.
Neunzehn Jahre! Wieso erinnerte sie sich nicht an diese Zeit? War sie vielleicht wirklich irgendwo mit dem Kopf aufgeschlagen? Hastig tastete Fi nach einer Beule, doch da war keine.
»Hör zu, Fi«, die Möwe klang diesmal deutlich ungeduldiger, »mein Name ist Kriwa. Ich weiß nicht, was mit dir los ist, aber im Moment ist das auch unwichtig. Zunächst einmal müssen wir Koggs und seine Mannschaft retten. Er ist einer der erbittertsten Feinde Morgoyas. Wenn wir hier nur tatenlos rumhocken und schwatzen, wird die Sirene ihn und seine Männer entweder fressen oder an die Nebelkönigin ausliefern. Ohne Zweifel ist das Miststück eine Dienerin Morgoyas. Und wenn die Sirene
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