Der Simulant
sickert ihm der Schlamm in die Holzschuhe. Ich habe zwar einen Hut auf, aber mein Mantel ist bereits durchnässt, und die Feuchtigkeit dringt mir bis in die wollene Kniehose und krallt sich um die Gerätschaften zwischen meinen Be i nen, die jetzt auch noch zu jucken anfangen. Sogar die verkrüppelten Hühner sind abgegackert, um sich irgendwo ein trockenes Plätzchen zu suchen.
»Mann«, sagt Denny und schnieft. »Ehrlich, du brauchst nicht zu bleiben.«
Nach dem, was ich noch von ärztlicher Diagnose weiß, könnte Dennys Blässe auf einen Lebertumor hinwe i sen.
Siehe auch: Leukämie.
Siehe auch: Lungenödem.
Der Regen wird noch heftiger, die Wolken sind so du n kel, dass drinnen schon Lampen angezündet werden. Der Rauch aus den Schornsteinen senkt sich über uns. Die Touristen verziehen sich in die Taverne und tri n ken australisches Bier aus Zinnbechern, die in Indon e sien produziert werden. In der Tischlerwerkstatt schnüffelt der Möbelschreiner Leim aus einer Papiert ü te, zusammen mit dem Schmied und der Hebamme, die mal wieder erzählt, sie wolle Leadsängerin in der Band werden, von deren Gründung die drei immer nur träumen können.
Wir sitzen alle in der Falle. Es ist immer 1734. Wir alle stecken in derselben Zeitkapsel fest, genau wie in di e ser Fernsehserie, in der immer dieselben Leute auf einer menschenleeren Insel dreißig Jahre lang g e strandet sind und weder älter werden noch zu en t kommen versuchen. Sie sind bloß immer stärker g e schminkt. Es ist unheimlich, aber irgendwie ist diese Serie vielleicht auch zu authentisch.
Es ist unheimlich, aber irgendwie kann ich mich hier für den Rest meines Lebens so herumstehen sehen. Eine tröstliche Vorstellung: Denny und ich, wie wir uns bis in alle Ewigkeit über denselben Scheiß beklagen. Immer auf dem Weg der Besserung. Sicher, ich muss immerzu Wache halten, aber wenn man das wirklich authentisch sehen will, ist es mir lieber, dass Denny hier in den Stock geschlossen ist, als dass er verbannt wird und mich allein zurücklässt.
Ich bin weniger ein guter Freund als vielmehr der Arzt, der einem jede Woche das Rückgrat einrenken will.
Oder der Dealer, der einem Heroin verkauft.
»Parasit« ist nicht das richtige Wort, aber das erste, das mir dazu einfällt.
Wieder klatscht Dennys Perücke auf den Boden. Das »Leck mich« auf seinem Schädel verläuft im Regen wie Blut, rosa trieft es um seine vor Kälte blauen O h ren, rosa rieselt es um seine Augen und über seine Wangen, rosa tröpfelt es in den Matsch.
Man hört nur noch den Regen, Wasser, das in Pfützen fällt, auf Strohdächer, auf uns. Erosion.
Ich bin weniger ein guter Freund als vielmehr der Erl ö ser, der von einem in alle Ewigkeit verehrt werden will.
Denny niest mal wieder, ein langer gelblicher Rotzf a den schlenkert ihm aus der Nase und landet auf der Perücke im Schlamm. »Mann«, sagt Denny, »leg mir bloß nicht wieder diesen ekligen Lappen auf den Kopf, okay?« Er schnieft. Dann hustet er, und die Brille fällt ihm von der Nase in den Dreck.
Nasaler Ausfluss weist auf Röteln hin.
Siehe auch: Keuchhusten.
Siehe auch: Lungenentzündung.
Seine Brille erinnert mich an Dr. Marshall, und ich s a ge, es gebe da ein neues Mädchen in meinem Leben, eine echte Ärztin, für die könnte man tatsächlich alles hinschmeißen.
Und Denny sagt: »Kommst du immer noch nicht mit der vierten Stufe weiter? Brauchst du vielleicht Hilfe, dich an Sachen zu erinnern, die du in dein Heft schre i ben sollst?«
Die vollständige und schonungslose Geschichte meiner Sucht. Ach ja, das. Jeden einzelnen lahmen, beschi s senen Augenblick.
Und ich sage: »Alles in Maßen, Mann. Auch das G e sundwerden.«
Ich bin weniger ein guter Freund als vielmehr der V a ter, der einen niemals richtig erwachsen werden la s sen will.
Und Denny sagt mit gesenktem Kopf: »Es hilft, wenn man sich an das erste Mal erinnert, das erste Mal von allem.« Er sagt: »Als ich mir das erste Mal einen ru n tergeholt habe, dachte ich, ich hätte das erfunden. Ich habe mir diese feuchte Hand voll Schleim angesehen und gedacht: Das wird mich eines Tages reich m a chen.«
Das erste Mal von allem. Das unvollständige Inventar meiner Verbrechen. Weder etwas Unvollständiges in meinem an Unvollständigkeiten reichen Leben.
Und immer noch mit gesenktem Kopf, blind für alles außer dem Matsch, sagt Denny: »Mann, bist du noch da?«
Und ich drücke ihm den Lappen auf die Nase und s a ge: »Schnaub.«
5
Egal, welche
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