Der Simulant
machen, dann wäre seine Fähigkeit, sich mit einem Lächeln irgendwie da durchzumogeln, umso bewundernswerter.
Das war genau wie bei irgendeinem Pornofilm: Da muss man sich ja auch immer einen Haufen Leute vo r stellen, die unmittelbar neben der Kamera herumhä n gen und stricken, Sandwichs essen und auf die Uhr schauen, während andere Leute es nur wenige Meter von ihnen entfernt nackt miteinander treiben …
Für den dummen kleinen Jungen war das eine Offe n barung. Wer so selbstzufrieden und zuversichtlich war, hatte das Nirwana erreicht.
»Freiheit« ist nicht das richtige Wort, aber das erste, das mir dazu einfällt.
Das war die Art von Stolz und Selbstbewusstsein, die der kleine Junge stibitzen wollte. Eines Tages.
Der Mann auf diesen Bildern mit dem Affen war er selbst. Er sah sich die beiden täglich an und dachte: Wenn ich das kann, kann ich alles. Egal, was einem sonst noch passieren mochte – wenn man lächeln und lachen konnte, während man in einem feuchten Keller hockte und ein Affe einem Kastanien in den Hintern schob und jemand davon Fotos machte, nun, dann wäre alles andere ein Kinderspiel.
Sogar die Hölle.
Für den dummen kleinen Jungen wurde das immer deutlicher …
Dass man, wenn einen nur genug Leute ansahen, niemals mehr die Aufmerksamkeit eines anderen brauchen würde.
Dass man, wenn man eines Tages nur oft genug e r tappt, entlarvt und bloßgestellt wäre, sich niemals mehr würde verstecken können. Es gäbe dann keinen Unterschied mehr zwischen dem öffentlichen und dem privaten Leben.
Dass man, wenn man nur genug erwarb, nur genug erreichte, niemals mehr etwas anderes erstreben wü r de.
Dass man, wenn man nur genug aß oder schlief, ni e mals mehr etwas anderes brauchen würde.
Dass man, wenn einen nur genug Menschen liebten, niemals mehr Liebe brauchen würde.
Dass man für immer klug genug sein könnte.
Dass man eines Tages genug Sex haben könnte.
Das alles wurden die neuen Ziele des kleinen Jungen. Die Illusionen, die er für den Rest seines Lebens haben sollte. Das waren die Verheißungen, die für ihn im L ä cheln des dicken Mannes lagen.
Und danach war es so: Jedes Mal, wenn er Angst ha t te, wenn er sich traurig oder einsam fühlte, jede Nacht, die er in einem neuen Pflegeheim aus dem Schlaf schreckte, in Panik, mit Herzrasen, das Bett durchnässt, jeden Tag, den er in eine neue Schule gehen musste, jedes Mal, wenn die Mutter ihn wieder abholte, in jedem feuchten Motelzimmer, in jedem Mietauto – dann dachte der Junge an die zwölf Fotos von dem dicken Mann. An den Affen und die Kast a nien. Und schon war der dumme kleine Scheißer wi e der ruhig. Das bewies ihm nämlich, wie tapfer und stark und glücklich ein Mensch werden konnte.
Dass Folter nur Folter ist, und Demütigung nur Dem ü tigung, wenn man selber leiden will.
»Erretter« ist nicht das richtige Wort, aber das erste, das mir dazu einfällt.
Und es ist komisch, wie man, wenn jemand einen re t tet, als Erstes dann andere Leute retten möchte. Alle anderen Leute. Jeden.
Der Junge hat den Namen des Mannes nie erfahren. Aber sein Lächeln hat er nie vergessen.
»Held« ist nicht das richtige Wort, aber das erste, das mir dazu einfällt.
6
Als ich meine Mutter das nächste Mal besuche, bin ich immer noch Fred Hastings, ihr alter Pflichtverteidiger, und sie lässt mich den ganzen Nachmittag quasseln. Bis ich erzähle, dass ich noch nicht verheiratet bin, worauf sie sagt, das sei aber schade. Dann macht sie den Fernseher an, irgendeine Seifenoper: echte Me n schen, die so tun, als wären sie unechte Menschen mit erfundenen Problemen, denen echte Menschen zus e hen, um ihre echten Probleme zu vergessen.
Beim nächsten Besuch bin ich immer noch Fred, aber verheiratet und habe drei Kinder. Schon besser, aber drei Kinder … Drei sind zu viel. Bei zweien sollte man aufhören, sagt sie.
Beim nächsten Besuch habe ich also zwei.
Und bei jedem Besuch liegt etwas weniger von ihr u n ter der Decke.
Umgekehrt sitzt jedes Mal etwas weniger von Victor Mancini auf dem Stuhl neben ihrem Bett.
Am nächsten Tag bin ich wieder ich selbst, und schon nach wenigen Minuten klingelt meine Mutter nach der Schwester, die mich wieder nach draußen begleiten soll. Wir schweigen beide, und erst als ich schon nach dem Mantel greife, sagt sie: »Victor?«
Sie sagt: »Ich muss dir was sagen.«
Sie reibt Flusen zwischen ihren Fingern, rollt sie zu einem kleinen Knäuel, und schließlich sieht sie zu mir auf und sagt:
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