Der Simulant
trage ich noch Wams und Kniehose. Meine Schnallenschuhe und die gewirkten Strümpfe, die meine dürren Waden betonen, sind mit Schlamm bespritzt.
Und meine Mutter sagt: »Morty, du musst das Gericht dazu bringen, den Prozess einzustellen.« Sie lässt sich seufzend in den Kissenstapel sinken. Dort, wo ihr G e sicht auf dem Kissen ruht, ist der weiße Bezug vom Speichel hellblau gefärbt.
Eine Genesungskarte hilft da auch nicht mehr.
Ihre Hand greift in die Luft. Sie sagt: »Ach, und Morty, du musst Victor anrufen.«
In ihrem Zimmer steht ein Geruch, genau wie der von Dennys Tennisschuhen im September, nachdem er sie den ganzen Sommer ohne Socken getragen hat.
Ein schöner Blumenstrauß kann da auch nicht mehr helfen.
Ich trage ihr Tagebuch in der Jackentasche. In dem Tagebuch steckt eine längst fällige Rechnung des Pfl e gezentrums. Ich stelle die Blumen in die Bettpfanne und ziehe los, um eine Vase und vielleicht etwas zum Essen für sie aufzutreiben. So viel Schokoladenpu d ding, wie ich tragen kann. Irgendetwas, was ich ihr mit dem Löffel in den Mund schieben und was sie schlucken kann.
Ihr Aussehen macht mir beides unerträglich: hier zu sein und nicht hier zu sein. Als ich gehe, sagt sie: »Du musst unbedingt Victor finden. Du musst ihn überr e den, Dr. Marshall zu helfen. Bitte. Er muss Dr. Mar s hall helfen, mich zu retten.«
Als ob irgendetwas jemals durch Zufall geschieht.
Draußen auf dem Flur treffe ich Paige Marshall. Sie hat die Brille auf und schaut auf ihr Klemmbrett. »Ich dachte, das interessiert dich vielleicht«, sagt sie. Sie lehnt sich an den Handlauf an der Wand des Flurs und sagt: »Deine Mutter wiegt diese Woche nur noch fün f undachtzig Pfund.«
Sie nimmt das Klemmbrett hinter den Rücken und hält es dort mit beiden Händen fest. Reckt mir die Brüste entgegen. Schiebt das Becken auf mich zu. Paige Marshall fährt mit der Zunge an der Innenseite ihrer Unterlippe entlang und sagt: »Hast du inzwischen mal nachgedacht, ob du was unternehmen willst?«
Lebenserhaltende Maßnahmen, künstliche Ernährung, künstliche Beatmung – die Mediziner nennen so etwas »radikale Maßnahmen«.
Ich weiß nicht, sage ich.
Wir stehen da und warten nur darauf, dass der andere nachgibt.
Zwei alte Damen schreiten lächelnd an uns vorbei, und eine zeigt auf mich und sagt: »Das ist der nette junge Mann, von dem ich dir erzählt habe. Er war es, der meine Katze erwürgt hat.«
Die andere Frau – ihre Jacke ist falsch zugeknöpft – sagt: »Was du nicht sagst.« Sie sagt: »Er hat meine Schwester einmal fast zu Tode geprügelt.«
Sie schreiten davon.
»Das ist reizend«, sagt Dr. Marshall. »Was du da machst, meine ich. Du hilfst diesen Menschen, die größten Probleme ihres Lebens zum Abschluss zu bringen.«
Wie sie jetzt aussieht, muss man an Massenkaramb o lagen denken. Zwei Bluttransporter, die frontal z u sammengestoßen sind. Wie sie aussieht, muss man schon an Massengräber denken, um wenigstens dre i ßig Sekunden was von der Nummer zu haben.
Am besten denkt man an verdorbenes Katzenfutter und eitrige Krebsgeschwüre und abgelaufene Spe n derorgane.
So fantastisch sieht sie aus.
Ob sie mich entschuldigen wolle, ich müsse noch e t was Pudding auftreiben.
Sie sagt: »Hast du eine Freundin? Ist das der Grund?«
Der Grund, warum wir kürzlich in der Kapelle keinen Sex hatten. Der Grund, warum ich, obwohl sie nackt und willig war, einfach nicht gekonnt hatte. Der Grund, warum ich weggelaufen war.
Eine vollständige Liste anderer Freundinnen findet sich in meiner vierten Stufe.
Siehe auch: Nico.
Siehe auch: Leeza.
Siehe auch: Tanya.
Dr. Marshall schiebt mir ihr Becken entgegen und sagt: »Weißt du, wie deine Mutter sterben wird, wie die meisten solcher Patienten sterben?«
Sie verhungern. Sie verlernen das Schlucken. Beim Atmen gerät ihnen Essen und Trinken in die Lunge. Ihre Lungen füllen sich mit verfaulendem Zeug, fest und flüssig. Sie bekommen eine Lungenentzündung. Sie sterben.
Ich sage: Ich weiß.
Ich sage, vielleicht gibt es Schlimmeres, als einen a l ten Menschen einfach sterben zu lassen.
»Aber das ist nicht irgendein alter Mensch«, sagt Paige Marshall. »Das ist deine Mutter.«
Und sie ist fast siebzig Jahre alt.
»Sie ist zweiundsechzig«, sagt Paige. »Wenn man e t was für sie tun kann, es aber nicht tut, ist das fahrlä s sige Tötung.«
»Mit anderen Worten«, sage ich, »ich soll ’ s dir m a chen?«
»Eine der Schwestern hier hat mir von deinen
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