Der Simulant
schluchzt auf Nummer drei. Wo auch immer das ist. Auf Nummer fünf flucht jemand. Auf acht wird gebetet. Auf neun dann wieder die Küche, die span i sche Musik.
Der Monitor zeigt die Bücherei, einen Korridor, dann zeigt er mich, ein körniges, schwarz-weißes Ich, das hinter dem Empfangsschalter hockt und auf den Mon i tor starrt. Eine Hand um den Drehknopf der Abhöra n lage gekrallt. Die andere Hand bis zum Ellbogen in der Hosentasche. Ich beobachte. Eine Kamera an der D e cke der Eingangshalle beobachtet mich.
Ich suche Paige Marshall.
Ich lausche. Wo steckt sie?
»Nachstellen« ist nicht das richtige Wort, aber das erste, das mir dazu einfällt.
Der Monitor zeigt mir eine alte Frau nach der anderen. Dann zehn Sekunden lang, wie Paige meine Mutter im Rollstuhl durch einen Gang schiebt. Dr. Paige Marshall. Ich drehe an dem Knopf, bis ich die Stimme meiner Mutter höre.
»Ja«, sagt sie, »ich habe gegen alles gekämpft, aber es beunruhigt mich immer mehr, dass ich nie für e t was gewesen bin.«
Der Monitor zeigt den Garten, krumme alte Frauen mit Gehwägelchen. Im Kies stecken geblieben.
»Natürlich kann ich herumnörgeln und jammern und alles negativ beurteilen. Aber was bringt mir das?«, sagt meine Mutter aus dem Off, während der Monitor schon auf die nächste Kamera umgeschaltet hat.
Auf dem Bildschirm erscheint der Speisesaal, me n schenleer.
Auf dem Bildschirm erscheint der Garten. Alte Leute.
Als Website wäre das ganz schön depressiv. Death Cam.
Ein Dokumentarfilm in Schwarz-Weiß.
»Kritik ist nicht gleichbedeutend mit Kreativität«, sagt meine Mutter aus dem Off. »Aufbegehren ist nicht aufbauen. Spott ist nicht produktiv … « Die Stimme wird immer leiser.
Auf dem Bildschirm erscheint der Tagesraum, die über das Puzzle gebeugte Frau.
Ich drehe an dem Knopf herum, ich suche.
Auf Nummer fünf höre ich sie wieder. »Wir haben die ganze Welt auseinander genommen«, sagt sie, »aber keine Vorstellung gehabt, was wir mit den Einzelteilen anfangen sollen … « Und dann ist ihre Stimme weg, wieder einmal.
Der Monitor zeigt einen Korridor nach dem anderen, die in der Dunkelheit verschwinden.
Auf Nummer sieben ist ihre Stimme wieder da: »Meine Generation. Dass wir uns über alles lustig gemacht haben, hat die Welt auch nicht vorangebracht«, sagt sie. »Wir hatten so viel damit zu tun, die Leistungen anderer Menschen zu kritisieren, dass wir kaum dazu gekommen sind, selbst etwas zu leisten.«
Ihre Stimme im Lautsprecher sagt: »Für mich war Rebellion ein Fluchtmittel. Unsere Kritik ist keine echte Anteilnahme.«
Sie sagt: »Es sieht nur so aus, als ob wir etwas gelei s tet haben.«
Sie sagt: »Ich habe zur Welt nichts Brauchbares be i getragen.«
Zehn Sekunden lang sind meine Mutter und Paige auf dem Korridor vor dem Bastelzimmer zu sehen.
Kratzig und weit weg sagt Paige aus dem Lautspr e cher: »Und was ist mit Ihrem Sohn?«
Ich drücke mir die Nase am Bildschirm platt.
Dort sehe ich mich selbst, ein Ohr am Lautsprecher, eine heftig zuckende Hand in der Hose.
Paige sagt aus dem Off: »Was ist mit Victor?«
Mir kommt ’ s gleich.
Und meine Mutter sagt: »Victor? Der hat auch seine Mittel, der Welt zu entfliehen.«
Dann lacht sie und s a gt: »Kinder sind Opium für das Volk!«
Auf dem Bildschirm erscheint hinter mir die Empfang s schwester mit einer Tasse Kaffee.
18
Beim nächsten Besuch ist meine Mutter noch dünner, falls das überhaupt möglich ist. Ihr Hals ist so schmal wie mein Handgelenk, die gelbe Haut tief eingesunken in den Höhlungen zwischen Kehlkopf und Sehne n strängen. Deutlich tritt ihr Schädel unter dem Gesicht hervor. Um mich in der Tür zu sehen, legt sie den Kopf zur Seite. In ihren Augenwinkeln kleben irgendwelche grauen Absonderungen.
Die Decke hängt schlaff und faltig zwischen den spi t zen Hüftknochen. Ansonsten zeichnen sich nur noch ihre Knie ab.
Sie schiebt einen furchtbaren Arm durch das ve r chromte Bettgeländer, dürr wie ein Hühnerbein. Sie streckt die Hand nach mir aus und schluckt. Ihre Kin n lade bewegt sich stumm. Die Lippen voller Speichelf ä den, sagt sie es schließlich. Sie greift nach mir und sagt es.
»Morty«, sagt sie, »ich bin kein Zuhälter.« Sie schü t telt die geballten Fäuste und sagt: »Ich gebe eine f e ministische Erklärung ab. Wie kann es Prostitution sein, wenn die Frauen alle tot waren?«
Ich habe ihr einen schönen Blumenstrauß und eine Genesungskarte mitgebracht. Da ich direkt von der Arbeit komme,
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