Der Simulant
perfekte Maschinen, die die Aufgabe erfüllen, für die sie entwickelt wurden. Manchmal berühren wir uns nur mit dem gleitenden Teil von mir und ihren schon etwas wunden, vorg e stülpten Rändern: Meine Schultern ruhen an der Pla s tikwand, nur mein Unterleib drängt immer wieder nach vorn. Tracy steht mit einem Fuß auf dem Boden, den anderen hat sie auf dem Waschbecken. Sie lehnt sich auf das hochgewinkelte Knie.
Einfacher ist es, uns im Spiegel zuzusehen: flach und hinter Glas, ein Film, ein Download, ein Foto, andere Leute, nicht wir, irgendwelche schönen Menschen, ohne Leben, ohne Zukunft, nur in diesem Augenblick existierend.
An Bord einer Boeing 767 macht man es am besten in der großen mittleren Toilette im hinteren Teil der To u ristenklasse. Fast unmöglich ist es in der Concorde, weil die Toiletten dort einfach zu winzig sind, meiner Meinung nach jedenfalls. Wenn man nur pinkeln oder sich die Kontaktlinsen einsetzen oder die Zähne pu t zen will, reicht der Platz bestimmt aus.
Wenn man aber vorhat, Kamasutra-Stellungen wie »die Krähe« oder »Cuissade« oder irgendetwas and e res zu verwirklichen, wozu man mehr als fünf Zent i meter Bewegungsspielraum nach vorn und hinten braucht, entscheidet man sich am besten für einen europäischen Airbus 300 - 310 mit seinen gruppe n raumgroßen Toilettenräumlichkeiten im hinteren Teil der Touristenklasse.
Ähnlich komfortable Arm-und Beinfreiheit genießt man nur noch in den beiden hint e ren Toiletten einer One-Eleven der British Aerospace.
Irgendwo nordnordöstlich über Los Angeles kann ich nicht mehr, und ich sage zu Tracy, wir sollten Schluss machen.
Und ich frage: »Warum machst du das?«
Und sie sagt: »Was?«
Das.
Und Tracy lächelt.
Die Leute, die man hinter unverschlossenen Türen findet, haben es satt, immer nur über das Wetter zu reden. Sie haben es satt, sicher und geborgen zu sein. Sie haben zu viele Häuser umgebaut. Sie haben zu lange in der Sonne gelegen, sie verzichten auf das Rauchen, auf weißen Zucker, auf Salz, Fett und Rin d fleisch. Sie haben gesehen, wie ihre Eltern und Große l tern ihr ganzes Leben lang gelernt und gearbeitet h a ben, nur um am Ende alles zu verlieren. Wie sie ihr Vermögen hingeben, bloß um den Magenschlauch zu bezahlen, der sie am Leben halten soll. Die das Kauen und Schlucken verlernt haben.
»Mein Vater war Arzt«, sagt Tracy. »Da, wo er jetzt ist, weiß er nicht mal mehr, wie er heißt.«
Diese Männer und Frauen hinter unverschlossenen Türen wissen, dass ein größeres Haus nicht die Lösung ist. So wenig wie ein besserer Ehepartner, mehr Geld, straffere Haut.
»Alles, was man kaufen kann«, sagt sie, »ist wieder nur etwas, was man verlieren wird.«
Die Lösung lautet: Es gibt keine Lösung.
Ehrlich, das ist von ziemlich weit reichender Bede u tung.
»Nein«, sage ich und schiebe ihr einen Finger zw i schen die Schenkel. »Ich hab das hier gemeint. W a rum rasierst du deinen Busch?«
»Ach, das«, sagt sie und verdreht lächelnd die Augen. »Damit ich G-Strings tragen kann.«
Ich setze mich auf die Toilette, und Tracy untersucht den Spiegel, das heißt, sie betrachtet nicht sich selbst, sondern sieht nur nach, was von ihrem Make-up übrig geblieben ist, und verreibt dann mit einem feuchten Finger den verschmierten Rand ihres Lippenstifts. Dann tupft sie an ihren Brustwarzen herum, um die Spuren meiner Zähne zu verwischen. Das Kamasutra nennt diese Zahnabdrücke »vereinzelte Wölkchen«.
Sie sagt zu dem Spiegel: »Dass ich das hier mache, hat eigentlich nur einen Grund: Es spielt sowieso überhaupt keine Rolle, was man macht.«
Es ist alles sinnlos.
Diese Leute wollen keinen Orgasmus, sie wollen ve r gessen. Alles. Wenigstens für zwei Minuten, zehn M i nuten, zwanzig, eine halbe Stunde.
Vielleicht reagieren Menschen auch so, wenn und weil sie wie Vieh behandelt werden. Vielleicht ist auch das nur ein Vorwand. Vielleicht langweilen sie sich einfach nur. Vielleicht ist der Mensch nicht dafür geschaffen, den ganzen Tag mit einem Haufen anderer Menschen in einen engen Raum eingepfercht zu sein.
»Wir sind gesund und jung, wir sind offen und lebe n dig«, sagt Tracy. »Wenn man ’ s genau betrachtet, was von all unserem Tun ist eigentlich am unnatürlich s ten?«
Sie zieht die Bluse wieder an, rollt die Strumpfhose wieder hoch.
»Warum tue ich überhaupt irgendwas?«, sagt sie. »Ich bin gebildet genug, mir jeden Plan auszureden. Jeden Wunsch zu zerpflücken. Jedes Ziel
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