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Der Simulator

Der Simulator

Titel: Der Simulator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Lalli
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Realitätsnähe herzustellen. Der einzige unübersehbare Unterschied zu meiner eigenen Welt war das Fehlen jeglicher Interviewer.
    Steins Welt wirkte ruhiger, friedlicher. Niemand, der einem auflauerte, niemand, der vor einem floh. Mir wurde wieder bewusst, welch hohen Preis wir bezahlten, um die ganze Marktforschungsmaschinerie am Laufen zu halten. So sehr ich gegen Trautmanns politische Visionen war, so verlockend war die Aussicht, irgendwann ohne Interviewer auskommen zu können.
    An einem dieser Ampelstopps meldete sich Steins Kommunikator. Sofort erklang eine weibliche Stimme in meinem Ohr. Stein hatte eine Audio-Verbindung auf seine implantierten Ohrhörer geschaltet.
    Stein schien die Frau näher zu kennen. Tatsächlich verband er mit ihr allerlei angenehme Vorstellungen, ohne dass ich hätte entscheiden können, ob es sich hierbei um Erinnerungen oder Phantasien handelte. Nach einem kurzen Gespräch verabredeten sie sich auf einen Drink in einer nahegelegenen Kneipe.
    Ich war erleichtert. Solange Stein Fahrrad fuhr, waren meine Möglichkeiten, etwas in Erfahrung zu bringen, sehr eingeschränkt. Ich konnte den Verkehr beobachten und die Gedanken meines Gastgebers verfolgen, mehr nicht. In einer Gastwirtschaft pulsierte das Leben. Dort gab es andere Reaktionseinheiten, Gespräche fanden statt, Diskussionen. Ich konnte Menschen beobachten, ihr Verhalten, ihr Umgang miteinander.
    Der Letzte Walfisch quoll vor Menschen über, und ich fragte mich, wie viele davon autonom reagierende Einheiten waren und wie viele nur Komparsen. Die Luft war rauchgeschwängert, was Stein nicht zu stören schien. Im Gegenteil, er zündete sich sofort eine Zigarette an.
    Ich hatte vergessen, dass es im Simulator kein Verbot öffentlichen und privaten Rauchens sowie Tabakkauens gab. Im Auftrag des Gesundheits-und Präventionsministeriums sollte die Langzeitwirkung exzessiven Nikotinmissbrauchs untersucht werden. Ein Riesenauftrag, dem ein Teil der Realitätsnähe des Simulators geopfert worden war. Und schließlich wurde in unserer eigenen Welt ja ebenfalls geraucht, wenn auch im Geheimen.
    Stein bestellte ein Bier, ein dunkles Gebräu einer mir unbekannten Marke. Vermutlich das Testobjekt einer neuen Studie. Offenbar hatte Kowalski nicht die Absicht, tatenlos zuzusehen, wie der Simulator wochen-und monatelang im Testbetrieb lief, ohne einen Cent einzubringen. Erste, kleine Forschungsprojekte sollten bereits zu diesem frühen Zeitpunkt Geld in die Kasse spülen.
    Neben dem Rauchen gab es etwas Zweites, das mir sofort auffiel. In jeder Ecke des Gastraumes hing ein riesiger TriVid-Schirm. Auf allen lief dasselbe Programm, offenbar eine Talkshow, und die Gäste standen darunter und unterhielten sich oder kommentierten die Sendung.
    Auch Stein warf einen Blick hinüber, doch innerlich beschäftigte ihn sein bevorstehendes Date deutlich mehr.
    Endlich kam Gunda, eine auffällig attraktive Brünette in Steins Alter, gab uns Küsschen auf die Wangen – vier, so wie es zurzeit Brauch war – und bestellte sich ebenfalls ein Bier.
    Jetzt war ich gespannt, wie es weiterginge. Etwas Zeit hatte ich noch. Doch abends war ich bei Samantha zum Essen eingeladen.
    Bernie, so nannte Gunda ihn, schien allerdings keine große Stimmungskanone zu sein. Er tat sich schwer, die passenden Worte zu finden, etwas Nettes zu sagen oder ihr gar ein Kompliment zu machen. Im Grunde fiel es ihm schwer, das Gespräch überhaupt in Gang zu halten.
    Schon nach wenigen Minuten wusste ich, dass sich seine Phantasien heute nicht verwirklichen würden, und ich verwünschte den Umstand, zur Untätigkeit verdammt zu sein. Zu gerne hätte ich ihm das eine oder andere Stichwort eingeflüstert. Ich sah mich gewiss nicht als ein Casanova an, aber im Vergleich zu ihm und seiner hölzernen Art war ich der personifizierte männliche Charme.
    Mehr aus Verlegenheit, denn aus Interesse wandten sie sich irgendwann der Talkshow zu. Endlich verstand auch ich, worum es dort ging.
    »Wir sollten nicht fragen, welche Perspektiven der Parlamentarismus hat, wir sollten uns fragen, ob der Parlamentarismus überhaupt eine Zukunft hat!« Der Sprecher, ein gut gekleideter und sorgfältig gestraffter älterer Mann, zog an seiner Zigarre. Die Proteste, die sich sofort erhoben, beschwichtigte er mit einer Hand. »Verstehen sie mich nicht falsch...«
    Offenbar stand eine mögliche Umwandlung des Parteiensystems zur Debatte. Auch in dieser Welt gab es eine GSD und eine GFD, doch hier war man bereits

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