Der Simulator
wie vor für die plausibelste Erklärung. Du leidest an einer Art exogener Paranoia. Einer Paranoia, die durch bedrohliche und belastende äußere Faktoren ausgelöst wurde.« Dann schwieg er und forschte in meinem Gesicht nach einer Reaktion.
Seine Vermutung war nicht neu. Ich selbst hatte mir diese Fragen schon gestellt. Aber wo war die Grenze? Wo hörte die Einbildung auf, wo fing die Wirklichkeit an? Welche meiner Reaktionen waren angemessen, welche übertrieben?
»Ja, ich sehe das Problem. Aber ich glaube, es bleibt dir nichts anderes übrig, als zu lernen, auf diesem schmalen Grat zu gehen. Jeder Fehltritt lässt dich in die Paranoia abgleiten oder in die – genauso gefährliche – falsche Sorglosigkeit.«
Genauso fühlte ich mich. Ich war jemand, der mit weichen Knien durch ein Minenfeld schritt, durch ein Minenfeld, in dem rechts und links von mir unsichtbare Sprengsätze ohne erkennbaren Grund hochgingen.
»Schau, dieser Bogdan hat mit Sicherheit niemals wirklich existiert. Du hast ihn zu einem Symbol hochstilisiert und du jagst ihn wie ein Phantom. Du denkst, wenn du sein Verschwinden aufklären könntest, hättest du alle Rätsel gelöst. Das ist zu einer fixen Idee geworden. Aber es gibt keine Rätsel, es gibt keinen Bogdan, und auch die Zeichnung von Achilles und der Schildkröte hat es höchstwahrscheinlich niemals gegeben.«
»Und meine Schwindelanfälle?« wandte ich ein.
»Ich halte sie für psychosomatisch. Eine körperliche Belastungsreaktion. Vielleicht eine Folge von Stress. Man weiß seit langem, dass stressbedingte Durchblutungsstörungen im Innenohr zu Schwindel führen, zu Schwindel oder zu Hörgeräuschen, manchmal auch zu beidem.«
Je länger der Doc sprach, desto überzeugender klangen seine Worte. Am Anfang stellte ich vieles, was er sagte, in Frage, zahllose Einwände türmten sich in meinem Kopf auf. Doch nach und nach gelang es ihm, sie zu entkräften, mehr noch, mir seine Sichtweise der Dinge so nahezubringen, dass sie sich fast wie meine eigene anfühlte. Es war verlockend, die Welt als so etwas Selbstverständliches zu betrachten, wie Doc Schmitt sie sah.
Ich weiß nicht, wie lange wir sprachen. Als ich wieder auf der Straße stand, war es Nacht. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich mich gut, fast wieder so wie früher. Es sollte mir gelingen, meine harmlose Paranoia in den Griff zu bekommen. Hatte ich sie erst einmal als das erkannt, was sie war, war es einfach, sie zu bekämpfen. Und schließlich konnte ich den Doc jederzeit aufsuchen.
Erleichtert ging ich zum Europaplatz zurück.
Nach wenigen Schritten stieß ich auf Kerstin Klier. Sie strahlte mich an, küsste mich zahllose Male auf die Wangen, hakte sich bei mir ein und fragte, wohin ich des Weges sei.
Ich muss zugeben, dass ich sofort an ein Komplott dachte. Selbst Schmitt als Drahtzieher für dieses scheinbar zufällige Treffen zog ich in Betracht. Ebenso möglich erschien mir, dass Kowalski mich über die Firma hatte orten lassen, um Kerstin ein weiteres Mal auf mich anzusetzen.
Schnell verscheuchte ich diese Gedanken wieder. Sie waren ein Paradebeispiel für das, was der Doc gemeint hatte. Ich bezog jedes Ereignis auf mich und interpretierte in jeden noch so harmlosen Zufall die Absichten finsterer Mächte hinein. Das musste endlich aufhören, andernfalls wäre ich sehr schnell wieder ganz unten angelangt.
»Du siehst aus, als könntest du eine kleine Aufmunterung brauchen.« Seit einiger Zeit duzten wir uns. Kerstin trug einen körperbetonten Overall, dessen Reißverschluss weit genug geöffnet war, um einen großzügigen Einblick in ihren Ausschnitt zu gewähren. Sie sah mich prüfend an. »Wie geht es dir?«
»Mir geht es gut.« Ich bemühte mich, unbeschwert zu klingen. Auch wenn ich mich tatsächlich viel besser als noch vor wenigen Stunden fühlte, sah man mir die Strapazen der zurückliegenden Tage wohl an. Ich erwähnte meinen Besuch beim Doc, entlockte ihr damit aber keine besondere Reaktion. Sie schien ihn flüchtig zu kennen, mehr nicht.
»Komm, lass uns etwas zusammen trinken oder ... rauchen.« Sie lachte. »Ich weiß doch, dass du Stammgast in der Schwarzen Zigarre bist.«
Ich wandte ein, dass ich müde sei und mich gerade auf dem Heimweg befände, aber offenbar war mein Protest etwas halbherzig, denn sie setzte sich ohne Weiteres darüber hinweg und zog mich mit sich in die entgegengesetzte Richtung.
Im Grunde hatte sie recht. Etwas Abwechslung täte mir gut. Es war noch früh, und
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