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Der Simulator

Der Simulator

Titel: Der Simulator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Lalli
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Geld übrig hatte, dann steckte er es in seine einzige, ihm neben dem Rauchen verbliebene Leidenschaft: Er sammelte und reparierte mechanische Uhren. Berühmte Marken und Namen waren allerdings nicht darunter. Bei seinen Uhren handelte es sich meist um ganz normale Haushaltsuhren aus dem vergangenen Jahrhundert. Einige wenige, besondere Exemplare mochten zweihundert Jahre alt sein. Bei manch einer Gelegenheit hatte er mir ihre Funktionsweise ausführlich erklärt.
    Ich glaube, er war vor allem von ihrer grobschlächtigen Mechanik fasziniert. Anders als in der Mikroelektronik, wo abermilliarden Schaltungen notwendig waren, um selbst einfachste Geräte zum Laufen zu bringen, genügten einer mechanischen Uhr zehn oder zwanzig Teile, um das Vergehen der Zeit mit hinreichender Genauigkeit zu messen. Natürlich gab es auch komplexere Uhrwerke, wahre Wunderwerke der Mechanik, die manchmal aus hunderten von Bausteinen bestanden.
    Vieles, was er bei Haushaltsauflösungen fand oder ersteigerte, war alt, verrostet oder verbogen, und manch notwendiges Rädchen oder Schräubchen fehlte. So hatte sich der Doc eine kleine Werkstatt eingerichtet, wo er feilte und fräste, Metall abschliff und aufbohrte. Weiß der Teufel, wo er das Werkzeug aufgetrieben hatte.
    An diesem Tag lagen die Bestandteile einer alten Standuhr auf dem Küchentisch, und er bearbeitete gerade den Gewichtszug mit einer feinen Drahtbürste.
    Er bot mir zuerst eine große Tasse seines berüchtigten Kaffees an. Sein dunkles Aroma füllte das Zimmer und vermischte sich mit dem rauchigen Duft der brennenden Scheite. Unverhofft stellten sich Erinnerungen an meine Hütte in der Schweiz ein: das Anfachen des Kamins, das Zischen und Knallen des feuchten Holzes, der Wind, der gegen die Fenster drückte und den Schnee auf die Fensterbretter schob. Für mich gab es kaum etwas, was ich mehr mit Geborgenheit verband. Sofort fiel ein Teil meiner Anspannung von mir ab.
    »Doc«, begann ich irgendwann, »ich habe dir nicht alles erzählt.«
    Mein ehemaliger Lehrer sah von seiner Arbeit auf und nickte. »Das habe ich mir schon gedacht, aber ich wollte dich nicht drängen.«
    Und dann erzählte ich ihm die ganze Geschichte. Ich fing mit den Schwindelanfällen an, den Meinungsverschiedenheiten zwischen Blinzle und mir, ließ weder Bogdans plötzliches Verschwinden noch den E-Bus aus, der mich beinahe überfahren hätte. Ich berichtete von der ebenfalls verschwundenen Zeichnung, der Explosion in unserem Rechenzentrum, der gelöschten Frau Hauser und dem merkwürdigen Gespräch mit unserer Kontakteinheit. Von Bogdan, der als Dragan seine Auferstehung im Simulator feierte, und von der Warnung, die mir der Interviewer gerade zugesteckt hatte. Als ich Trautmann, die Pläne der GSD und Kowalskis politische Ambitionen erwähnte, pfiff er leise durch die Zähne.
    »Hm«, er ließ die Metallkette der Uhr durch die Finger gleiten und prüfte sorgfältig die Beweglichkeit ihrer Glieder. Dann hängte er das Pendelgewicht dran und ließ es einige Male hin und her schwingen. »Hm«, sagte er dann erneut, »das ist ein kompliziertes Problem.«
    Ich ließ ihm Zeit, sah zu, wie er das Zuggewicht einsetzte und dann die Uhr aufzog. Er würde von selbst weitersprechen.
    Schließlich sah er auf. »Es gibt zweifellos Ereignisse, die wir als real einstufen müssen. Dazu gehören die Machenschaften der GSD, die Panne im technischen Bereich des Simulators und auch die ... Botschaft, die du heute bekommen hast.« Ich nahm den Beweis aus der Brieftasche und legte ihn auf den Tisch. Der Doc warf einen flüchtigen drauf. »Und es gibt Ereignisse, die real sind, die du aber überinterpretierst. So hat es diesen Zwischenfall mit dem E-Bus tatsächlich gegeben, aber mit allergrößter Wahrscheinlichkeit standest du nur zufällig dort an eben jener Stelle.« Der Doc wählte seine Worte mit Bedacht, offenbar fürchtete er, mich zu verletzen. »Ich finde es auch völlig verständlich, dass du so reagierst. Das würde vermutlich jeder. Du stehst enorm unter Druck, und du wirst tatsächlich angefeindet, von den Interviewern, von Teilen der öffentlichen Meinung. Und auch Trautmanns Umsturzpläne sind real, so gerne ich sie als Phantasiegebilde abtäte.« Er nahm einen Schluck Kaffee. »Du erinnerst dich an unser letztes Gespräch? An die Belastung, die ich erwähnte, die die Schaffung künstlichen Lebens mit sich bringt?« Ja, ich hatte in den vergangenen Tagen fast unaufhörlich daran gedacht. »Ich halte sie nach

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