Der Simulator
Bildschirm, wo ihm das automatische Anrufsystem diverse Parameter anzeigen mochte. »Einundzwanzig Uhr fünfzig, genügend Zeit bis Mitternacht also. Wo waren wir stehen geblieben? Ja, wir standen offenbar noch ganz am Anfang.«
Kerstin hatte plötzlich ein Hologramm in der Hand, das sie in die Kamera hielt. »Herr«, sie kniff die Augen zusammen, um die Kennung des Interviewers zu lesen. Vielleicht hatte sie ihre Linsen nicht auf, oder der Alkohol forderte seinen Tribut. »Herr Müller-374. Ist das so richtig?«
»Das ist exakt richtig. Genauer gesagt, Florian Müller-374.«
»Also, Herr Florian Müller-374. Erkennen Sie die Echtheit dieses Dokuments an?«
Nach einem kurzen Blick auf seine Anzeigen, antwortete der Interviewer deutlich weniger forsch als noch kurz zuvor: »Ja, Frau Klier, das ist eine Ausnahmegenehmigung der Stufe C...«
»Die besagt...«
»...dass man Sie nach zweiundzwanzig Uhr nicht mehr stören darf.«
»Aha, Herr Florian Müller-374, könnten Sie mir vielleicht noch einmal sagen, wie spät es ist?«
»Es ist jetzt genau einundzwanzig Uhr und einundfünfzig Minuten.«
»Herr Müller, meinen Sie, dass wir Ihre hochinteressante Befragung bis zweiundzwanzig Uhr abgeschlossen haben?«
»Das halte ich für ausgeschlossen, zumal eine Unterbietung der Befragungszeit um mehr als fünfzig Prozent zu erheblichen bürokratischen Komplikationen führen würde, die ich weder Ihnen noch mir zumuten möchte. Aber wir könnten die Befragung jetzt beginnen und morgen fortsetzen...«
» Könnten oder müssten?«
»Wenn Sie darauf hinauswollen, ob Sie dazu verpflichtet sind oder nicht, dann darf ich Ihnen hierzu keine rechtsverbindliche Antwort geben. Ich gehe jedoch davon aus, dass es sich in diesem speziellen Fall um eine Kann-Bestimmung handelt.«
»Ich muss also nicht?«
»Man könnte es so sehen.«
»Gut, Herr Müller, dann melden Sie sich doch morgen wieder, dann werde ich Ihnen gerne nach bestem Wissen und Gewissen Auskunft geben.«
»Ich weise Sie darauf hin, dass Sie sich strafbar machen, wenn Sie morgen...«
»Einen schönen Abend, Herr Müller.«
Kerstin schaltete ab und lehnte sich zurück. Sie schien mit sich zufrieden. Wer weiß, was Kowalski für eine Ausnahmegenehmigung der Stufe C auf den Tisch gelegt hatte. Ich hatte interviewergeplagte Freunde, die ihren rechten Arm geopfert hätten, um nach zehn Uhr abends in Ruhe gelassen zu werden.
Kerstin räkelte sich auf ihrem Sessel. »Wie sieht es aus, Marc, nimmst du meine Entschuldigung an?« Sie machte Anstalten, ihr Kleid auszuziehen.
»Kerstin, nicht!«
Sie zog einen Schmollmund. »Was ist mit dir los, Marc? Gefalle ich dir nicht?«
»Doch, du bist wunderschön, aber...« Es gab so viel, was dagegen sprach, doch wo hätte ich anfangen sollen?
»Ist es Blinzles Tochter?«
»Samantha?«
Ihr Blick wanderte hinauf zur Zimmerdecke. »Ja, Samantha, so heißt sie wohl. Ich sehe sie vor mir. Sie ist hübsch. Sehr hübsch sogar.« Dann runzelte sie die Stirn. »Aber ich sehe sie nur durch deine Augen.«
»Heißt das...«
»Ja, die Blaue Lagune hat es in sich. Ein gefährlicher Ort. Du solltest nicht leichtfertig mit einer Zufallsbekanntschaft dorthin gehen.« Ich muss ein betretenes Gesicht gemacht haben, denn sie lachte auf. »Keine Angst, ich verrate es niemandem.«
»Es sei denn, Kowalski interessiert sich dafür.« Das rutschte mir heraus, und ich bereute es im selben Augenblick.
»Du bist gemein, Marc Lapierre. Du bist gemein wie ein Stein.« Sie kicherte.
»Entschuldige, ich wollte nicht...«
»Lass nur, einer Hure macht es nichts aus, wenn sie eine Hure genannt wird.«
»Aber stolz bist du nicht darauf?«
Sie antwortete nicht. Wir schwiegen beide.
»Du solltest jetzt gehen«, sagte sie irgendwann. Sie war aufgestanden.
In der Tür umarmte sie mich, drückte mich lange und fest. »Ich mag dich, Marc. Was immer du über mich denkst.« Dann küsste sie mich auf den Mund und schob mich hinaus.
Ich stieg die Stufen hinunter bis zum Gartentor. Es öffnete sich mit einem Klick. Auf der Straße hielt ich kurz inne, um durchzuatmen. Ich war durcheinander. Der kurze Besuch bei Kerstin hatte einiges in Bewegung gesetzt. Etwas hatte sich geändert, auch wenn ich nicht hätte angeben können, was.
Die Kontakteinheit war sie vermutlich nicht. Es gab zwar viel, was sie psychisch belastete, doch handelte es sich hierbei um recht triviale Dinge. Enttäuschte Liebe, Ausbeutung, Einsamkeit. Das Wissen um die Bedeutungslosigkeit
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