Der Simulator
unserer aller Existenz war es wohl nicht.
Auch ihre Bemerkung über Samantha hatte mich verwirrt. So leicht ich diese als der Eifersucht geschuldet hätte abtun können, sie schien tiefer in mich hinein geblickt zu haben, als mir lieb war, tiefer vielleicht sogar, als ich es bisher selbst getan hatte.
Doch ich sollte mich irren. Die Erkenntnis, die sich an diesem Abend ihren Weg in mein Bewusstsein zu bahnen begonnen hatte, stand in keinem Zusammenhang mit Blinzles Tochter, mit Kerstin selbst oder gar Kowalski. Ich verdankte sie vermutlich dem Anruf von Florian Müller-374.
Diese Erkenntnis war nicht Ergebnis langem Nachdenkens, umständlichen Kombinierens oder Abwägens. Und es gab keinen Weg dahin, zumindest keinen bewussten. Sie traf mich unvorbereitet und mit voller Wucht.
Plötzlich wusste ich, warum es unsere Welt gab. Ich erkannte ihre Aufgabe, ihren tieferen Sinn, ihre Berufung. Denn daran gab es keinen Zweifel: War unsere Welt tatsächlich eine unvorstellbar große Simulation, dann existierte sie nicht um ihrer selbst willen. Sie musste einen Zweck haben, eine klar umrissene Existenzberechtigung, die den gewaltigen Aufwand lohnte.
Unsere Welt stellte nichts anderes als eine Simulation im Dienste der Marktforschung dar. Die unzähligen Interviewer, die sie bevölkerten und uns das Leben zur Hölle machten, waren kein Schönheitsfehler, kein Auswuchs eines entgleisten Systems. Sie waren der eigentliche Grund, warum es uns gab, sie gaben unserem Dasein ihren Sinn.
Wieso hatte ich so lange gebraucht, um diesen einfachen Zusammenhang zu verstehen? Lag nicht alles offen und für jedermann ersichtlich vor uns?
Insofern hatte die Welt große Ähnlichkeiten mit unserem Simulator. So klein der eine, so riesig der andere war, beide Simulatoren dienten der Marktforschung. Doch wir hatten einen anderen Weg gewählt, den vermeintlich fortschrittlicheren. Wir beobachteten nur und befragten nicht. Aber vermutlich war das lediglich eine Frage der Maßstabsebene. Was im Kleinen gut funktionieren mochte, ließ sich im Großen kaum zufriedenstellend lösen.
Und jetzt fielen mir auch Zahlen ein. Der Anteil der Markt-und Meinungsforschung am Bruttoinlandsprodukt war über die Jahre und Jahrzehnte stetig gewachsen. Hunderttausende arbeiteten als freie Interviewer, nochmal so viele werteten die Befragungen aus. Unter den dreißig Dax-Unternehmen waren allein dreizehn Marktforschungsmultis. Die Branche hatte die Autoindustrie, den Maschinenbau und kürzlich sogar den Windanlagenbau überflügelt.
Aber wir waren offenbar nur das Spielfeld einer uns überlegenen Wirklichkeit. Unendlich viele, einander so ähnliche Produkte wurden nur auf den Markt geworfen, um sie zu testen, um unsere Reaktion zu messen, unsere Neigung, sie zu kaufen. So schnell sie die Seiten der Onlineshops eroberten, genauso schnell verschwanden sie wieder.
Jetzt wusste ich, wo ich suchen musste, wo das Zentrum unserer Welt angesiedelt war. Wenn es irgendwo eine Verbindung nach oben gab, wenn irgendwo jemand mehr wusste, dann dort, beim BVI, dem Bundesverband der Interviewer, dieser mächtigsten Berufsorganisation.
Noch am gleichen Morgen fuhr ich nach Frankfurt. Im Büro hatte ich mich entschuldigt. Meine Anwesenheit schien ohnehin kaum jemanden zu interessieren.
In Mannheim-Friedrichsfeld nahm ich den Blitzshuttle, der mich in knapp fünfzehn Minuten in die ehemalige Bankenmetropole brachte. Zu den alten waren viele neue Hochhäuser hinzugekommen, doch sie beherbergten größtenteils die bekannten Anbieter unserer Branche. Daneben die großen Felddienstleister, Online-Research-Häuser und spezialisierte Auswertungsunternehmen. So war es folgerichtig, dass sich auch der größte deutsche Interviewerverband hier angesiedelt hatte.
Der BVI residierte direkt am Main, nur wenige Fußminuten vom neuen Shuttle-Terminal am Hauptbahnhof entfernt. Als ich mich ihm durch die Karlsruher Straße näherte, glitzerte der Glasturm in der Vormittagssonne. Alles in allem mochte er gut 300 Meter hoch sein, und so überragte er die nahen und weiter entfernt stehenden Türme um ein gutes Stück. Er war das Werk eines bekannten japanischen Architekten und wirkte überaus filigran und elegant.
Der BVI-Turm stand mitten in einer gepflegten Grünanlage. Mehrere niedrige, kuppelförmige Glasgebäude umringten es. Auf den Wegen dazwischen drängten sich die Menschen. Die meisten davon kamen von der nahen U-Bahn-Station oder gingen dorthin.
Ich schwamm in diesem Strom
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