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Der Simulator

Der Simulator

Titel: Der Simulator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Lalli
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Samantha war ein Avatar, erkannte ich. Sie war ein Wesen aus der höheren Wirklichkeit, das einen künstlichen Körper benutzte, um sich in unserer Welt zu bewegen.
    Auch ich war oft in meinem Avatar in unseren Simulator hinabgestiegen. Hätte mich jemand dabei beobachtet, wäre auch ich für ihn aus dem Nichts gekommen und ins Nichts wieder verschwunden. Nicht umsonst benutzte ich den Fahrstuhl im Green Hyatt Hotel, um unbeobachtet zu materialisieren.
    Samantha war also keine Reaktionseinheit wie ich selbst eine war. Sie war ein echtes Wesen aus einer echten Welt, ein Mensch der höheren Wirklichkeit.
    Diese Einsicht traf mich wie ein Schlag. Es war nicht einmal so, dass ich mich betrogen und verraten fühlte. Schlimmer war, dass mir dadurch meine eigene Bedeutungslosigkeit in ihrer ganzen Tragweite bewusst wurde.
    Ich selbst war nur eine Illusion von Leben, das Echo einer möglichen Existenz. Wie eine Schaufensterpuppe bewohnte ich eine sorgsam arrangierte und inszenierte Kunstwelt. Meine Identität entsprang der Laune eines Programmierers, meine Handlungsfreiheit bestand im Befolgen der Anweisungen einer allumfassenden Steuerung.
    Was dagegen war sie? Ein Wesen aus Fleisch und Blut. Ein Mensch. Ein Gott, denn diese Menschen hatten uns, hatten mich erschaffen.
    Konnte es einen größeren Gegensatz geben, einen größeren Abstand zwischen uns? Wie hatte ich mir jemals einbilden können, auf der gleichen Stufe zu stehen wie sie? Wie hatte ich mich jemals in sie verlieben können?
    Das kam mir so lächerlich vor, und ich schämte mich zutiefst. Ich fragte mich, was sie in mir sehen mochte. Vermutlich war ich nur ein Insekt, das sie studieren konnte. Nein, verbesserte ich mich, ein Insekt war immerhin echtes Leben. Ich war nicht einmal so viel wert wie das armseligste Lebewesen.
    Schließlich kam dann doch Wut in mir auf. Sie hatte mir etwas vorgemacht, hatte mit mir gespielt, hatte sich vermutlich über mich und meine unbeholfenen Bemühungen nur amüsiert.
    Wie hatte ich denken können, ihr läge tatsächlich etwas an mir? Warum hätte sie mir helfen wollen? Was konnte ihr an mir und meiner Existenz liegen?
    Ich versuchte mich in sie hineinzuversetzen, dachte an meine eigenen Besuche in unserem Simulator, an Bernd Stein oder Peter Löwitsch. Was bedeuteten mir diese Wesen? Was empfand ich für sie? Waren sie für mich wie Figuren in einem Computerspiel? Betrachtete ich sie als eine Art Haustier?
    Wir hatten als Menschen die Fähigkeit zur Empathie. Vermutlich fühlten unsere Schöpfer ähnlich. Es fiel uns leicht, Mitgefühl für andere aufzubringen. Ein Mitgefühl, das wir auch für andere Lebewesen und selbst für Film-und Romanfiguren entwickelten. Und doch konnten wir sie ohne großes Bedauern sterben lassen, wenn wir am Ende das Buch zuschlugen oder das Sensor-Kino verließen.
    Samantha war zweifelsohne auf mich angesetzt worden. Sie hatte mich beobachtet, hatte meine Irrungen und Wirrungen verfolgt, mein langsames und schmerzhaftes Erkennen der Zusammenhänge, und sie hatte alles getan, um mich von diesem gefährlichen Erkennen abzuhalten, hatte mich gewarnt, abgelenkt, in die Irre geführt.
    Sie wollte die Simulation retten, mich kontrollieren und wieder zu einem vernünftig funktionierenden Werkzeug der höheren Wirklichkeit machen.
    Vermutlich hatte sie an jenem Tag, als ich sie in Blinzles Büro überraschte, zum ersten Mal die Simulation betreten. Vermutlich gab es kein Vorher, keine gemeinsamen Erlebnisse, keine Zeit als Blinzles Tochter, an die ich mich so lebhaft erinnerte. Was uns verband, war nur das Ergebnis einer Nachprogrammierung, künstliche Erinnerungen, die ihre plötzliche Anwesenheit in unserer Welt erklären sollten.
    Jetzt verstand ich auch ihre häufige Abwesenheit. Man hatte sie in jener Nacht etwa, in der sie aus Blinzles Haus verschwand, nicht reprogrammiert, wie ich mir eingebildet hatte, sie war einfach in ihre eigene Welt zurückgekehrt.
    Auch sie als höheres Wesen konnte sich nicht unbeschränkt in der Simulation aufhalten, und vermutlich wollte sie es gar nicht. Sie kam stundenweise zu Besuch, um ihren Auftrag zu erfüllen, und kehrte dann zurück in ihre eigene Wirklichkeit. Wie arm, wie unvollkommen musste ihr unsere Welt erschienen sein! Kein Wunder, dass sie ihr so oft wie möglich den Rücken gekehrt hatte.
    Noch immer stand ich an der gleichen Stelle, ohne zu wissen, ob Minuten oder nur Sekunden seit Samanthas Verschwinden vergangen waren, als ein Geräusch mich

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