Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Simulator

Der Simulator

Titel: Der Simulator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Lalli
Vom Netzwerk:
sich selbst überlassen.
    Ich war noch nicht weit gekommen, als mich ein Geräusch wie von berstendem Holz innehalten ließ. Es herrschte Halbdunkel, und die Wipfel der Bäume waren kaum zu erkennen. Dem lang anhaltenden Krachen – es hörte sich an, als zerreiße man einen Stamm der Länge nach – folgten einige dumpfe Aufschläge. Schließlich stürzte ein meterlanger Ast genau vor meine Füße.
    Der Boden bebte, Laub wirbelte auf, und mir blieb beinahe das Herz stehen. Ich meinte, jemanden lachen zu hören, aber es war sicherlich nur eine Illusion.
    Nachdem ich mich von dem Schrecken erholt hatte, ging ich vorsichtig weiter. Plötzlich fühlte ich mich unsicher. Verschwunden war die Vertrautheit, die ich mit dieser Stelle verband. Jahrelang war ich hier herumgestreift, war eins mit der Natur gewesen, mit der üppigen Vegetation und den unzähligen Tieren, mochten diese Erinnerungen eingebildet sein oder nicht. Jetzt erschien mir alles fremd, bedrohlich. Es war eine feindliche Umwelt, erkannte ich jetzt. Überall lauerte Gefahr.
    Ich erkannte zudem, dass es ein Fehler gewesen war, zur Hütte zurückzukehren. War ich hier auch vor den deutschen Strafverfolgungsorganen in Sicherheit, hatte die höhere Wirklichkeit freie Hand, mit mir anzustellen, was ihr immer beliebte. Hier gab es keine Zeugen, keine Kollateralschäden, keine Widersprüche täten sich auf, die man mühsam reprogrammieren musste. Hier konnte sich die Erde öffnen und mich verschlucken, niemandem fiele es auf.
    Kaum an der Lichtung angekommen, beschloss ich umzukehren. Wir mussten aufbrechen und zurück in die Stadt fahren. Wenn nicht nach Deutschland, so doch in eine Schweizer Stadt. Nach Zürich zum Beispiel, nach Bern oder Basel. Jede noch so kleine Ansiedlung erschien mir sicherer als die Abgeschiedenheit meiner jetzigen Zufluchtsstätte.
    Ein Geräusch ließ mich erneut innehalten. Es war ein heiseres Brüllen, ein Fauchen, das an einen großen Bären erinnerte. Ich hob das Gewehr. Langsam drehte ich mich um meine eigene Achse. Dann sah ich das Tier. Es stand am Rand der Lichtung im hohen Gras und beobachtete mich. Obwohl es ein gewaltiges Tier war, war ich mehr erstaunt als erschrocken. Das Gewehr glitt mir aus der Hand.
    Es war ein Tiger. Allein die Tatsache, dass Tiger seit vielen Jahren ausgestorben und zudem meines Wissens nie in der Schweiz heimisch gewesen waren, bewies mir, wie irreal die Situation war. Niemand schien sich noch um Realitätskonstanz zu scheren, und Widersprüche aller Art wurden billigend in Kauf genommen. Man wollte mich beseitigen, und dabei war jedes Mittel recht.
    Langsam ging ich rückwärts auf die ersten Bäume zu. Der Tiger folgte mir zögernd. Sein Schwanz peitschte nervös die Luft. Er schien erregt. Erneut brüllte er laut und anhaltend.
    Das Tier war ein wunderschönes Exemplar erkannte ich trotz meiner Angst. Es wäre der Stolz jeder Zooanimation gewesen. Mehr als einmal war ich im Heidelberger Zoo gewesen, um mir prähistorische oder erst kürzlich ausgestorbene Tierarten anzusehen. Regelrechte Safaris konnte man dort unternehmen und von einem simulierten Biotop zum nächsten wandern.
    Vielleicht war es diese Assoziation, die mir die richtige Eingebung gab. Der Tiger erschien mir in jeder Hinsicht so irreal, dass ich mich einfach umdrehte und davonging. Ich ließ ihn zusammen mit meinem Gewehr zurück.
    Mein Herz raste auf den ersten Metern, doch langsam beruhigte ich mich. Das Tier verfolgte mich nicht. Vielleicht war es nicht darauf programmiert, vielleicht sollte es mich nur erschrecken.
    Schließlich kam ich zur Hütte zurück. Ich war nicht lange fortgeblieben, und Samantha saß noch immer auf der Bank vor dem Haus. Noch bevor ich rufen konnte, stand sie auf. Ohne mich zu sehen, ging sie ein Stück. Dann blieb sie stehen.
    Sie verschwand. Nein, sie löste sich auf, wurde durchsichtig, bis nichts mehr von ihr zu sehen war. Nichts deutete mehr darauf hin, dass sie eine Sekunde zuvor noch dort gestanden hatte. Sie war die Kontakteinheit.

15 . Kapitel
    Lange blieb ich unbeweglich stehen und starrte auf die Stelle, an der Samantha sich in Luft aufgelöst hatte. In diesem Augenblick war es mir gleichgültig, wie viele wilde Tiere hinter mir her waren, welche aus der Kontrolle geratenen Naturphänomene mich bedrohen mochten.
    Ebenso lange brauchte ich, um mehr zu verstehen. Sie war keine Kontakteinheit, denn eine Kontakteinheit konnte sich genausowenig in Luft auflösen, wie ich es selbst gekonnt hätte.

Weitere Kostenlose Bücher