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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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neuerdings malte, war eine Beleidigung für jeden gewissenhaften Freskanten. Die eigentliche Arbeit am Fresko war für ihn zur Nebensache geworden. Als benutze er den lästigen Pinsel lediglich, um sichtbar zu machen, was in seinem Kopf längst Gestalt angenommen hatte, während sein Geist in Gefilden unterwegs war, die keiner der anderen auch nur erahnen konnte. Nun, Aurelio würde herausfinden, welche Gefilde das waren.
    Das Gefühl der Kälte in seiner Wange war bereits erstorben, als Michelangelo endlich die Leiter vom Gerüst herabstieg. Offenbar hatte er auf der Bühne ausgeharrt, bis er sicher war, dass de’ Grassi sich in seine Gemächer zurückgezogen hatte. Aurelio hielt den Atem an. Er sah Michelangelos ausgetretene Stiefel, die untere Hälfte seines braunen Umhangs. Lange verweilten die Stiefel reglos am Fuß der Leiter, bevor sie bedächtig die Kapelle abschritten. Ahnte er etwas? Spürte er, dass er nicht allein war? Dass er beobachtet wurde? Aurelio ließ seinen Atem so langsam entweichen, dass kein verräterrischer Hauch unter der Bank hervorkam. Schließlich ging Michelangelo zum Seiteneingang hinüber und zog die schwere Holztür auf. Seine Stiefel verschwanden in der Mauer. Die Tür schloss sich.
    Aurelio schlich sich heran und legte sein Ohr an die Tür. Als er sicher war, dass sich dahinter nichts regte, löste er eine der Fackeln aus ihrer Halterung, zog die Tür drei Handbreit auf und schlüpfte in den Durchgang. Wie beim ersten Mal waren sowohl die Tür, die aus der Mauer herausführte, als auch die zum Balkon von innen verriegelt. Doch wie war das möglich? Wie konnte Michelangelo sich innerhalb der Kapellenmauer in Luft auflösen?
    Aurelio leuchtete die Wände und den Boden ab. Es musste eine Erklärung geben. Die marmorne Figurine in der Nische, deren Helm, Schild und Lanze sie als Athene auswiesen, beobachtete ihn mit undurchdringlichem Blick. Die Göttin der Weisheit. Kannte sie die Antwort? Aurelio leuchtete ihr direkt ins Gesicht. Keine Regung. Wenn Athene die Antwort kannte, würde sie sie nicht ohne weiteres preisgeben. Erneut überprüfte er die Türen. Gab es eine Möglichkeit, von außen den Riegel auf der Innenseite vorzulegen? Nein, unmöglich. Aurelios Zähne mahlten aufeinander, dass sein Unterkiefer knirschte.
    Die Göttin der Weisheit. Was, wenn sie die Antwort nicht kannte, sondern die Antwort war ? Er drehte sich um. Die Nische lag gegenüber der Tür, die zum Balkon führte. Aurelio suchte die Statue mit der Fackel ab – ihren Helm, das Gewand, den Schild, die Lanze, ihre Sandalen, die kräftigen Arme, die schlanken Finger. Nichts. Was auch immer er zu finden gehofft hatte: Die Figurine barg kein Geheimnis in sich. Gleiches galt für ihren Sockel, der sie so weit emporhob, dass sich ihres und Aurelios Gesicht auf gleicher Höhe befanden. Er befühlte die Kanten und Vorsprünge und klopfte die Flächen ab. Kein Hohlraum, keine Klappe, nichts. Dann drängte er sich seitlich in die Nische und suchte die Rückseite der Statue ab. Nichts. Natürlich nicht. Und der Sockel: ein solider, marmorverkleideter Klotz, ohne … Moment. Aurelio zog seine Hand zurück. Wartete. Schob sie hinter die Figurine, zog sie wieder zurück. Noch einmal, um ganz sicherzugehen.
    Er war kaum spürbar, doch er war da: ein Luftzug. Wenn Aurelio seine Hand vorstreckte, glitt sie hindurch. Mit den Fingern spürte er dem Luftzug nach und ertastete einen kaum sichtbaren Spalt in der Wand – schmal wie ein Fingernagel –, den er für einen Riss im Mauerwerk gehalten hätte. Verborgen in der Nische, geschützt von der Göttin der Weisheit, befand sich … Ja, was eigentlich? Aurelio quetschte sich hinter die Figurine und stemmte sich gegen die Wand. Entlang der Wölbung begann sich ein feiner Schatten abzuzeichnen, kurz darauf klaffte eine Öffnung in der Nische. Er hatte eine Geheimtür aufgedrückt, etwa zwei Fuß breit und vier Fuß hoch. Ein Kind hätte aufrecht hindurchgehen können. Oder auch die Göttin der Weisheit, sofern sie ihren Helm abgesetzt und die Lanze aus der Hand gelegt hätte. Ein Schwall erdiger, abgestandener Luft quoll aus der Öffnung. Aurelio bückte sich, hielt die Fackel wie ein Schwert von sich gestreckt, zwängte sich durch den Spalt und schloss behutsam die Tür.
    Der vor ihm liegende Tunnel war so schmal, dass keine zwei Personen aneinander vorbeigepasst hätten, und so niedrig, dass Aurelio den Kopf einziehen musste. Nach etwa zwanzig Fuß endete er an einer weiteren

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