Der Sixtinische Himmel
Tür, die von Aurelios Seite verriegelt werden konnte, jetzt jedoch nur angelehnt war. Aurelio zog sie auf und streckte die Fackel vor. Stufen. Zwei Dutzend ins Erdreich führende, in den Stein gehauene Stufen. Aurelios Füße ertasteten eine nach der anderen. Je tiefer er hinabstieg, umso rutschiger wurden sie. Die Luft schmeckte lehmig, Feuchtigkeit drang aus den Wänden. Unten angekommen, schloss sich rechts ein bogenförmiger Durchgang an. Dahinter weitete sich überraschend der Raum. Vor ihm lag, so weit seine Fackel die Stätte zu erhellen vermochte, ein aus alten römischen Ziegeln gemauerter Gang, in dem er bequem stehen konnte und von dem seitlich Räume abgingen. Zwanzig Fuß unterhalb der Sistina. Was um alles in der Welt war das? Mit schweißnassen Handflächen und in den Ohren dröhnendem Herzschlag schritt Aurelio unter dem Bogen hindurch.
Es war nicht ein Gang, es waren mehrere. An den Kreuzungspunkten erreichte die Decke eine Höhe von zwölf oder gar fünfzehn Fuß und wuchs sich zu kleinen Gewölben aus. Die Luft verklebte Aurelio die Atemwege und benetzte seine Haut. Vorsichtig tasteten sich seine Füße über den gestampften Boden. Manche Wände waren mit Ziegeln verkleidet, andere einfach in den Fels geschlagen. Scheinbar wahllos waren Schlitze aus dem Stein gehöhlt worden, oftmals drei oder vier übereinander, manche versetzt oder einfach an Stellen, die genug Platz geboten hatten. Sie waren etwa anderthalb Fuß hoch und etwa fünf Fuß breit. Kleine Kavernen, gerade groß genug, um … menschliche Körper in sich aufzunehmen! Aurelio erschauerte, als er mit seiner Fackel in die erste Kammer leuchtete und ihn aus einem der vielen Schlitze die schwarzen Höhlen eines Totenschädels anstarrten.
Eine Katakombe! Ein unterirdisches Gräbersystem, mitten im Vatikan! Mit Hunderten von Leichnamen, die hier ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Und so, wie es den Anschein hatte, bereits vor vielen hundert Jahren. Aurelio griff sich an die Schläfen. Ihm schwirrte der Kopf. Was hatte das zu bedeuten? Jede gefundene Antwort schien drei neue Fragen aufzuwerfen. Wo befand er sich? Und warum? Und wenn Michelangelo durch die Geheimtür hinter der Athene-Statue verschwunden war – wo war er jetzt?
Aurelio zwang sich zum Nachdenken: Durch einen anderen als den Geheimgang konnte Michelangelo nicht verschwunden sein. Das bedeutete, sofern es keinen anderen Ausgang gab, musste er sich innerhalb dieser Katakombe befinden. Aurelio straffte seinen Körper, stieß einige Male seinen Atem aus und begann, den Hauptgang abzuschreiten. Vor jeder Kammer, in die er seine Fackel streckte, hielt er kurz inne und versuchte, auf alles gefasst zu sein. Er sah Knochen, Gebeine, umgestürzte Säulen, Schädel, zerborstene Namensplatten. Er glaubte, Geräusche zu hören, doch wann immer er seine Ohren spitzte, war da nichts als das Zischen seiner Fackel. Der Hauptgang beschrieb einen leichten Bogen. Auch war er etwas geneigt, so dass Aurelio das Gefühl hatte, wie in einer Spirale immer tiefer in den Fels zu dringen.
Nach etwa sechzig oder siebzig Schritten endete der Stollen abrupt vor einer gemauerten Wand. Doch wieder gab es einen niedrigen Bogen, der zur Rechten von dem Gang abzweigte. In die Travertinquader, die den Durchgang bildeten, war ein Gittertor eingelassen, das unverschlossen war. Es öffnete sich nach innen, zur Katakombe hin.
Wieder Stufen. Ein schulterbreiter, grob in den Stein geschlagener Schacht, der im Zickzack nach oben führte. Es gab also einen weiteren Ausgang. Aurelios Herz fing an zu galoppieren, sein Hals schwoll an. Wenn ihm jemand folgte, säße er in diesem Schacht gefangen wie ein Fisch in der Reuse. Nervös klammerte er sich an die Fackel. Nach dem sechsten oder siebten Podest spürte er eine plötzliche Veränderung. Von hier an waren die Wände gemauert, auch fühlte sich die Luft weniger feucht und zäh an. Er legte eine Hand an die Stirnseite des Schachtes und spürte an der feuchten Kälte des Steins, dass diese Seite der Tramontana ausgesetzt war. Er musste sich wieder über der Erde befinden. Doch wo? Der Aufgang hatte weder Fenster noch Lüftungsschlitze, einen Ausgang schien es ebenfalls nicht zu geben. Aurelio befühlte die Wände. Drei waren trocken, nur die vierte war dem Wind ausgesetzt. Der Schacht musste sich innerhalb eines Gebäudes befinden.
Er setzte seinen Weg fort. Etwas anderes blieb ihm nicht übrig. Nach zwei weiteren Podesten gelangte er an eine Tür. Sie war
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