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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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künstlerischen Meisterschaft eines vergangenen Zeitalters zu künden. Und noch in tausend Jahren wird sein Schmerz nicht nachgelassen haben.« Die folgenden Worte versickerten gleichsam im Wandteppich. Aurelio hörte sie nur noch als Hauch. » Das ist mein Schicksal.«
    Michelangelos Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Ihm war klar, dass er diesen Auftrag auf keinen Fall annehmen durfte. Ebenso wie er wusste, dass er ihn trotzdem nicht ablehnen würde. »Ihr wisst, dass ich mein Leben riskiere, wenn ich diesen Auftrag annehme.«
    »Ihr habt Euer Leben bereits riskiert, indem Ihr meine Gemächer betreten habt.«
    Sie wusste es so gut wie Michelangelo: Die Entscheidung war längst gefallen.
    »Wann ist mit Julius’ Rückkehr zu rechnen?«, fragte Michelangelo. Der Papst hatte die Vorboten des Frühlings zum Anlass genommen, seiner in Bracciano lebenden Tochter Felice einen Kurzbesuch abzustatten.
    »Übermorgen.«
    »Dann komme ich morgen, zur Vesperstunde – mit Stift und Papier.«
    »Ich werde bereit sein.«
    »Und ich verlange zehntausend Dukaten – sofern die Statue jemals zur Ausführung gelangt.«
    »Eine geringere Summe hätte mich beleidigt.«
    Aurelio stolperte rückwärts durch die Tür, riss die Fackel aus dem Boden und hastete die Stufen hinab. Als er den Gang durch die Katakombe entlangrannte, wäre um ein Haar die Flamme erloschen. Einen Moment später stahl er sich aus der Kapelle und eilte im Laufschritt aus dem Vatikan.
    Bastiano empfing ihn mit einem Grinsen: »Das ging aber schnell heute.«
    Aurelio starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Bastiano widerum blickte Piero an, der ebenfalls zu schmunzeln begann. Hatte Michelangelo sie ins Vertrauen gezogen? Aurelios Finger und Zehen brannten wie von unzähligen Nadelstichen. Waren alle eingeweiht, nur er nicht?
    »Ist heute nicht Dienstag?«, fragte Bastiano.
    Aurelio sah seinen Bettgenossen an, als kröchen Schlangen statt Worte aus dessen Mund. Trieben sie ein Spiel mit ihm?
    »Deine Geliebte?«, fragte Rosselli besorgt. »Dienstag?«
    Dienstag. Margherita. Statt zu antworten, lief Aurelio in die Küche, leerte einen halben Krug mit Wasser, stürzte in seine Kammer und schlug die Tür hinter sich zu. Gegen die Wand gelehnt, ließ er sich zu Boden gleiten und presste seine Hände gegen die Schläfen. Kurz darauf hörte er, wie Michelangelo nach Hause kam und Rosselli fragte, ob noch etwas zu essen übrig sei.

XXXIII
    Ohne zu ahnen, was er damit vorhatte, steckte Aurelio am Morgen sein Messer ein. Er brannte vor Verlangen, sie zu sehen. Aphrodite. Die Frau hinter dem Mythos, das Gesicht hinter dem Schleier, die Sünde hinter der Keuschheit. Im Stillen ihren Namen auszusprechen, versetzte ihn bereits in einen Rausch. Ihre verhüllte Gestalt wich keinen Augenblick mehr von seiner Seite.
    Michelangelo bemühte sich, während der Arbeit am Fresko nichts von seiner Erregung nach außen dringen zu lassen. Aurelio jedoch spürte seine wachsende Ungeduld in kleinen Gesten auf: Wenn sein Meister mit den bloßen Fingern eine Borste vom Intonaco entfernte, die sich aus dem Pinsel gelöst hatte, oder wenn er warten musste, bis eine neue Farbe angerührt war. Die heutige Giornata – Gesicht und Schulterpartie eines Ignudo, der dem Betrachter sein Profil zugewandt hatte und vor sich zu Boden blickte – verlangte Michelangelo weder körperliche noch geistige Anstrengungen ab. Geradezu beiläufig formte er die Schulter, die den Betrachter glauben machte, sie wölbe sich aus dem Putz. Nachdem er den letzten Pinselstrich angebracht hatte, war dem Ignudo, ob beabsichtigt oder nicht, ein sonderbarer Gesichtsausdruck eigen, hinter dem sich ein Geheimnis zu verbergen schien.
    Aurelio folgte seinem Meister, kaum dass dieser im Seiteneingang der Kapelle verschwunden war. Unten, in der modrigen Feuchtigkeit der Katakombe, zwischen den in den Stein gehauenen Mauern und den Gebeinen längst vergangener Jahrhunderte, rang die Laterne, die er diesmal bei sich führte, nach Luft.
    Als Aurelio mit Michelangelo über die Baustelle von Sankt Peter gegangen war, hatte dieser ihm erklärt, dass, nachdem man Petrus beigesetzt hatte, auf dem Abhang des vatikanischen Hügels im Laufe der Jahrhunderte eine Nekropole, eine Totenstadt, entstanden war. Als Kaiser Konstantin dann die erste Basilika über dem Grab des Apostelfürsten errichten ließ, wurden Teile dieser Nekropole abgerissen, andere, unterirdische, über denen die Kirche erbaut werden sollte, zugeschüttet und

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