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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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Meister Modell stand, forderte der ihn oft dazu auf, ihm von seiner Kindheit zu berichten, seiner Familie, dem Leben auf dem Hof. Während man redete und seine Erinnerungen durchstreifte, dachte man nicht darüber nach, wie nackt man gerade war und was der Körper machte.
    »Er kennt nur den Kampf«, überlegte Aphrodite. »Eroberung. Sieg und Niederlage. Im Bett führt er sich auf wie ein Feldherr. Nach einem Sieg will er gedemütigt werden, nach einer Niederlage verlangt er Unterwerfung von mir. Nichts könnte langweiliger sein.« Kurz wurde sie sich der Situation bewusst und warf Michelangelo einen überraschten Blick zu. Gleich darauf war sie jedoch wieder in ihre eigene Gedankenwelt versunken. »Darüber hinaus ist Julius ein alter Mann, der gegen sein nahendes Ende ankämpft und glaubt, sich von meiner Jugend nähren zu können.« Sie versuchte, sich des Gedankens an Julius zu entledigen, und wandte sich Michelangelo zu: »Was soll ich tun?«
    »Bleibt einfach nur stehen.« Michelangelos Stift tastete sich vorsichtig über das Papier. »Ihr tut genug, wenn Ihr nichts tut. Mehr als genug.«
    * * *
    Zwei Skizzen hatte Michelangelo angefertigt, als Aurelio erstmals den Raum wahrnahm: die marmorne Kamineinfassung, die einem griechischen Tempel nachempfunden war; die Säulen aus Elfenbein mit den goldenen Kapitellen; die mit Fresken geschmückten Wände; die Kupferschale von vier Fuß Durchmesser, in der die Blüten schwarzer Rosen schwammen. Für die dritte Skizze erlaubte Michelangelo Aphrodite, sich zu setzen. Er war unzufrieden mit dem Ergebnis der letzten Stunden. Aurelio erkannte es daran, wie der Stift über das Papier kratzte. Schließlich brach er die Zeichnung ab, trennte die Skizzen aus seinem Buch und schob sie in ein verborgenes Fach seiner Ledermappe.
    »Ihr könnt Euch anziehen.«
    »Ihr habt bereits genug?«
    »Nein. Doch ich finde nicht, was ich suche. Noch nicht. Es wird wachsen müssen.«
    Mit einer Bewegung, die sich Aurelio ins Gedächtnis brannte, bückte sich Aphrodite, hob ihr weißes Kleid vom Boden auf und ließ es ihren Körper hinabgleiten.
    »Was geht in Euch vor, wenn Ihr mich anseht?«, wollte sie wissen.
    Michelangelo verstaute seine Zeichenutensilien: »Selbst, wenn ich Worte dafür hätte, zöge ich es vor, sie für mich zu behalten.«
    »Auch Ihr begehrt mich also?«
    »Davon habe ich nichts gesagt.«
    »Ihr begehrt mich also nicht?«
    »Ich werde jetzt gehen.«
    »Michelangelo!« Sie trat an ihn heran. Aurelio musste schlucken. »Lasst mich teilhaben, ich bitte Euch. Ich will verstehen, will fühlen, was in Euch vorgeht.«
    »Nein. Das wollt Ihr nicht.«
    * * *
    Aurelio erwartete seinen Meister im Vorraum der Bottega, im Schein seiner Laterne, eingehüllt in eine Decke. Nirgends im Haus war es kälter. Der eisige Luftzug, der durch die Gassen strich, ließ die Flamme zittern, und von dem, was die Feuerstelle in der Küche und die Kohlenpfanne im Atelier an Wärme spendeten, drang nichts bis hierher. Es schien, als zöge die Kälte das letzte Leben aus den Steinen, als käme alles zum Stillstand.
    Er musste mit Michelangelo reden, sich ihm offenbaren. Das Geheimnis teilen. Alleine konnte er es nicht schultern. Und wen sonst hätte er ins Vertrauen ziehen können? Piero? Nein. Granacci? Auf keinen Fall. Bastiano? Erst recht nicht. Und Margherita, den Brunnen des Stadtgeflüsters, wie sie sich selbst nannte? Sicherer konnte ein Todesurteil kaum sein. Hinzu kam, dass niemand außer Michelangelo ihn verstehen würde. Keiner der anderen hatte sie zu Gesicht bekommen.
    Aurelio erinnerte sich an den Biss einer Höllenotter, den er als Kind erlitten hatte. Das Gift hatte überall zugleich gebrannt. Als Tommaso ihn endlich fand, im Feld liegend und fast vollständig gelähmt, wusste Aurelio nicht einmal, wo sie ihn gebissen hatte. Niemals hatte die Sonne heller geschienen als an jenem Tag – ein weißglühendes Licht, das die Ähren um ihn herum in leuchtende Striche verwandelte und die Silhouette seines Vaters in eine blendende Traumgestalt.
    Das Klirren von Michelangelos Schlüsselbund brachte Aurelio in den Vorraum zurück. Sein Meister hielt eine Laterne in der Hand und sein ledernes Skizzenbuch unter den Arm geklemmt. Statt eine Frage an seinen Gehilfen zu richten, blieb er stehen, schloss die Tür, schüttelte die Kälte aus Gliedern und Umhang und richtete einen Blick auf Aurelio, der jede Frage seinerseits überflüssig machte und jedes Wort Aurelios unmöglich. Hatte Michelangelo

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