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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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sich in Aphrodite gespiegelt gesehen? In ihr seine eigene Tragik erkannt? Jetzt, nachdem Aurelio sie mit eigenen Augen erblickt hatte, begann er die Übermacht des Gefühls zu verstehen, das von seinem Meister manchmal Besitz ergriff. Es war ein Kampf auf Leben und Tod. Seine Kunst, seine Begierden, seine Sehnsüchte, seine Entsagungen – alles in Michelangelo war so stark, dass es ihn zugrunde zu richten drohte. Und doch suchte er den eigenen Abgrund jeden Tag aufs Neue.
    »Tu das nicht.« Michelangelos Stimme erstarrte in der Luft wie alles andere. »Warte nicht auf mich. Niemals.«
    Er ging um Aurelio herum und stieg die Treppe hinauf. Seine Kammertür wurde geöffnet und geschlossen. Danach trat Stille ein. Aurelio hatte es nicht über sich gebracht, auch nur ein Wort an seinen Meister zu richten. Mit steifen Gliedern erhob er sich von seinem Schemel, nahm die Laterne und ging zu seiner Kammer hinüber. Einmal noch drehte er sich um, hielt die Laterne von sich gestreckt und leuchtete in den Vorraum. Merkwürdig. Als lauere etwas auf ihn. Ungreifbar. Und dennoch war es da.
    Er lag neben dem schlafenden Bastiano, den Blick auf die Zeichnung gerichtet, die Michelangelo ihm damals geschenkt hatte und die seither an der Wand lehnte. Endlich beugte er sich über den Bettrand und löschte die Kerze. Und dann, als ihm im Dunkel der letzte Rauch der erstickten Flamme in die Nase stieg, begriff Aurelio, was es gewesen war, im Vorraum: der Duft von Rosenblüten – schwarzen, wie Aurelio jetzt wusste.

XXXIV
    Die Engelsburg, von deren Mauern Fahnen und bunte Bänder wehten, war in den Schein so vieler Fackeln getaucht, dass, wer vom Petersplatz kommend zum Ponte Sant’Angelo hinunterging, glauben konnte, die Burg selbst stehe in Flammen. Den Tag über hatten Männer mit langstieligen Keschern den Burggraben von Unrat, verwesendem Getier sowie verfaultem Laub befreit. Dabei war auch eine steinbeschwerte Leiche ans Licht gekommen, die auf dem Grund des Grabens überwintert hatte, nicht mehr identifiziert werden konnte und offenbar nicht vermisst worden war. Anschließend hatte man drei Fässer Lavendelöl – ein Geschenk Ludwigs XII. – in den Graben entleert. Mit dem Erfolg, dass sich der süßlich beißende Gestank verwesenden Fleisches mit dem süßlich stechenden Geruch destillierten Lavendels vermischt hatte.
    Gemeinsam mit Granacci, Rosselli und Bastiano hatte sich Aurelio nach der Arbeit zur Piazza Ponte Sant’Angelo begeben und unter die Schaulustigen gemischt. Erwartungsgemäß war ihnen Granacci sehr bald abhandengekommen. Kaum hatten sie den Tiber überquert, verfing er sich in den Armen einer Kurtisane und verabschiedete sich mit der Bemerkung, bis das Spektakel seinen Anfang nähme, sei ja noch Zeit. Kein Bürger, kein Pilger und kein Reisender wollte sich das für Mitternacht angekündigte Feuerwerk entgehen lassen. Tausende drängten sich vor der Burg und säumten den Flusslauf von der Torre di Nona bis hinunter zum Spital Santo Spirito.
    Lediglich Michelangelo hatte es vorgezogen, zu Hause zu bleiben. »Jeder gute Tag für Rom ist ein schlechter für Florenz.« Mit diesen Worten war er demonstrativ in seine Kammer hinaufgestapft und hatte die Tür hinter sich zugeknallt.
    Venedig war geschlagen worden, vernichtend geschlagen, endlich. Es hatte der Liga von Cambrai bedurft – einer Allianz zwischen König Ludwig und Kaiser Maximilian, der sich später noch weitere Machthaber, unter ihnen Papst Julius, anschlossen –, um den Venezianern erstmals seit über tausend Jahren auf dem Festland eine Niederlage zuzufügen. Und zwar von einer Art, die den Lauf der Geschichte bestimmen würde. Fünftausend Tote, Verwundete und Gefangene hatten die Venezianer zu beklagen, ein Viertel der gesamten Truppe. In Rom sprach man sogar von zehn- bis fünfzehntausend. Auf ihrem Weg von Agnadello in die Heilige Stadt hatte sich die Zahl der Getöteten auf geheimnisvolle Weise verdreifacht. Doch wie viele es auch sein mochten: In jedem Fall würde die machthungrige Republik Venedig ihre Vorherrschaft im Mittelmeerraum künftig mit anderen teilen, wenn nicht gar an sie abtreten müssen. Rom strebte zu einstiger Größe empor, der Stadt und ihren Bewohnern erwuchs ein neues Selbstbewusstsein. Was seine persönlichen Verfehlungen betraf, so war Julius ebenso streitbar wie seine Vorgänger; eines jedoch stand fest: Er war ein Mann der Tat, Gottes unbarmherziges Werkzeug. Wenn jemand dazu ausersehen war, ganz Italien unter

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