Der Sixtinische Himmel
aufgefüllt. Offenbar war diese Katakombe dabei in Vergessenheit geraten, womöglich sogar bewusst ausgespart worden. Es gab keinen Grund, weshalb Konstantin mehr hätte zuschütten lassen sollen, als für den Bau der Basilika erforderlich gewesen war. Vermutlich war dieser Ort erst beim Bau der Sixtinischen Kapelle wiederentdeckt worden. Möglich sogar, dass bis heute nicht mehr als eine Handvoll Menschen von seiner Existenz wussten.
Aurelio stieg den schmalen Schacht zum Papstpalast empor, passierte die erste Tür, stellte vor der zweiten die Laterne ab und schlich sich gerade rechtzeitig genug hinter den Wandteppich, um seinen Meister sagen zu hören: »Mit Schleier werde ich Euch kaum zeichnen können, verehrte Aphrodite.«
Nur zu hören, wie Michelangelo ihren Namen aussprach, bewirkte bei Aurelio, dass jede einzelne seiner Haarwurzeln zu jucken begann. Am liebsten hätte er den Teppich von der Wand gerissen und gerufen: Seht her, hier bin ich! Das Schweigen schnürte ihm die Luft ab.
Endlich hörte er ihre dunkle Stimme: »Was ist?«
Michelangelo, der offenbar mit dem Rücken zu Aurelio saß, antwortete: »Ich hatte daran gedacht, zunächst Euer Gesicht zu zeichnen.«
»Und ich dachte, Ihr würdet das Gesicht nur verstehen, wenn Ihr auch den Rest kennt.«
Aurelio bemerkte erst, dass er das Messer hervorgeholt hatte, als seine Hand es aus dem ledernen Futteral zog. Vom Kamin her ertönte das schläfrige Knurren des Jaguars. Mit unendlicher Vorsicht ertastete er eine Stelle zwischen zwei Webreihen und begann, die Fasern aufzutrennen.
»Nun?«, fragte Aphrodite.
Eine nach der anderen sprangen die Seidenfäden unter Aurelios Klinge auf. Als der Schnitt groß genug war, um ihn zu einem winzigen Spalt zu öffnen, führte Aurelio sein Auge an den Schlitz.
»Nun verstehe ich«, antwortete Michelangelo.
Das Gemach war vom Schein zahlloser Kerzen erfüllt. In ihrem Licht badete die schönste Frau, die Aurelio jemals zu Gesicht bekommen hatte. Der Kerzenschein verwandelte ihre Brüste in flüssiges Gold und die Rundung ihrer Hüfte in eine Mondsichel. Aurelio glaubte sich in einem Traum. Er wusste nicht mehr zu sagen, wo die Wirklichkeit endete und die Phantasie begann. Langsam, sehr langsam zog er die Klinge seines Messers über die Kuppe seines linken Daumens. Es schmerzte nicht, doch er fühlte, wie die Haut aufplatzte und das Blut seinen Daumen hinablief, und als er ihn ableckte, schmeckte er sein Blut. Dies war kein Traum.
Aurelio versuchte zu begreifen, was an Aphrodite so anders war. Niemand kannte ihre Herkunft. War sie eine Mulattin? Oder eine Mestizin? Ihre Haut war dunkel, ihre sich bis auf die vollen Brüste herabwellenden Haare schwarz, doch ihre Augen hatten die Farbe von Lapislazuli, und ihre Beine waren lang und schlank wie die der Frauen von jenseits der Alpen. Sie war stark und geschmeidig wie ihr Jaguar, zugleich jedoch war sie fragil, ihr Körper feingliedrig.
Es tat weh, sie anzusehen. Ihre Nacktheit entfesselte in Aurelio eine Begierde, für die er keine größere Scham hätte empfinden können. Augenblicklich verstand er, weshalb der Papst ihr zu Füßen lag, wortwörtlich, weshalb er sich vor sie hinwarf und ihr die Zehen leckte. Sie war alles, was man sich von ihr erzählte, mehr als das: Sie war ein lebender Traum und ein Kompendium der menschlichen Abgründe. Ihre Macht war von einer Art, die Julius gar keine andere Wahl ließ, als sie unter Verschluss zu halten. Aphrodite war die Erfüllung aller Sehnsüchte, die ein Mann haben konnte.
» Was versteht Ihr?«, fragte sie.
Alles, dachte Aurelio.
»Ich verstehe …« Michelangelo saß auf einem lederbezogenen Stuhl, der von goldenen Tigerpranken getragen wurde. Behutsam nahm er ein unbenutztes Skizzenbuch aus seiner Ledermappe und schlug es auf. »Julius liebt Euch. Mehr als alles andere – so man den Gerüchten Glauben schenkt.«
»Julius ist mir verfallen. Das ist wohl kaum dasselbe.« Aphrodite überlegte einen Moment. »Um zu lieben, müsste er etwas empfinden, das größer ist als er. Doch da er davon überzeugt ist, dass es auf Erden nichts Größeres geben könne als ihn selbst … Ich sollte Euch das nicht sagen.«
»Ich sollte nicht hier sitzen«, hielt Michelangelo ihr entgegen.
Aphrodite lächelte selbstvergessen.
»Wenn Ihr nicht von Julius sprechen wollt«, fuhr Michelangelo fort und feuchtete einen Rötelstift an, »so sprecht von etwas anderem.«
Aurelio kannte den Grund dieser Aufforderung. Wenn er seinem
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