Der Sixtinische Himmel
noch während der Arbeit das Motiv. Den Rest seiner schlaflosen Nächte – Aurelio war so sicher, wie er nur sein konnte – verbrachte Michelangelo damit, die Idee für die Statue heranreifen zu lassen. Es war, wie Aphrodite gesagt hatte: Sie hatte ihm ein neues Lebenswerk gegeben. Und diesmal würde Julius es ihm nicht entreißen können. Denn er würde nichts wissen von Michelangelos heimlicher Rückkehr zum Marmor. Auch wenn es noch Monate dauerte: Früher oder später würde Michelangelo seine Studien fortsetzen, Aphrodite zeichnen, in all ihrer Nacktheit – bis die Statue in seiner Vorstellung die eine Gestalt angenommen hätte, die all das zum Ausdruck brächte, was Michelangelo ihr eingeben wollte.
* * *
Plötzlich mischte sich in die Gerüche dieser Nacht der eines honigsüßen Parfüms, das Aurelio allzu bekannt vorkam. Er fuhr herum und sprang gleichzeitig auf: »Margherita!«
Das perlmuttfarbene Kleid, das vorhin über den Ponte Sant’Angelo stolziert war – es war ihres gewesen.
Mit geübter Beiläufigkeit zog sie sich eine Locke aus ihrer Steckfrisur. »Seit wann so schreckhaft?«
Kein Wunder, dass der Flötenspieler seinem Instrument nie gekannte Töne entlockt hatte. Im Umkreis von fünfzig Fuß gab es niemanden, der an Margherita und ihrem Kleid hätte vorbeisehen können. Dabei war es … lächerlich, wie Aurelio befand. Auf dem Rücken waren Applikationen aufgesetzt, die vermutlich an Engelsflügel erinnern sollten. Tatsächlich aber sah Margherita aus wie eine pummelige Libelle mit einer roten Perrücke. Die Brüste purzelten ihr beinahe von selbst aus dem Dekolleté. Das war kein Kleid, das war eine Verkleidung. Und dazu der viele Schmuck und die übertriebene Schminke. Wenn sie die Augen schloss, traten zwei grüne Kreise an ihre Stelle. Es bedurfte schon großer Anstrengungen, um unter all der Maskerade noch die fröhlich-hungrige Margherita zu entdecken, mit der er Arm in Arm auf der Ladefläche ihres Wagens übernachtet hatte.
»Ich habe nur …«, stotterte Aurelio.
Ihr Blick besagte unmissverständlich, dass sie mehr von ihm erwartete. Dringend. Ein Zeichen der Ehrerbietung – wo sie sich schon dazu herabließ, einem Malergehilfen mit Bauernschuhen in aller Öffentlichkeit ihre Gunst zu erweisen. Auch wenn er noch so schön sein mochte.
Aurelio versuchte ein Lächeln: »Hallo.«
An Margheritas Flügeln vorbei sah er, dass Bastiano hinter ihr stand und das Kunststück fertigbrachte, gleichzeitig ein halbes Dutzend Focaccie zu balancieren, auf einer von ihnen zu kauen und dabei breit zu grinsen. Wie von einer Schnur gezogen, stand auch Piero auf. Bis jetzt hatten sie geglaubt, Aurelio treffe sich jede Woche mit einer armen, hübschen Hure, die ihr Herz an den schönen Jüngling verloren hatte. Jetzt aber stand da plötzlich diese stolze Cortigiana und brachte den Bauernsohn aus Forlì in Verlegenheit, in dem sie ihm Blicke zuwarf, die eindeutiger nicht hätten sein können.
Aurelios Brust hätte vor Stolz schwellen sollen, doch er konnte hinter der Perlmuttfassade nur die Frau sehen, die alles dafür geopfert hätte, als jemand zu gelten, der sie nicht war – und deren Liebe für ihn am Ende doch nur Eigenliebe war. Aurelios wahre Sehnsucht indessen saß dort oben, unerreichbar, auf dem Balkon der Engelsburg, umweht von weißem Damast.
»Das sind Meister Rosselli und Meister Sangallo«, stellte er Piero und Bastiano vor.
Die beiden verbeugten sich, wobei Bastiano geschickt die Focaccie hinter seinem Rücken verbarg. Margherita deutete ein Nicken an, das hochmütiger erschien, als es gemeint war, aber Aurelio dennoch einen Stich versetzte. Er hatte ihr von seinen Kollegen erzählt. Sie musste wissen, dass vor ihr zwei erfahrene Freskanten standen, die bereits einiges geleistet hatten. Sie erwartete Ehrerbietung? Etwas Respekt von ihrer Seite hätte auch nicht geschadet.
Margherita lächelte ihr überlegenes Lächeln, trat an Aurelio heran, streckte sich und flüsterte ihm ins Ohr: »Wo bist du gewesen, letzten Dienstag – und den Dienstag davor? Eine Frau wie mich lässt man nicht warten. Das solltest du wissen, mein kleiner Prinz.«
Aber einen Bauern wie mich, dachte Aurelio, den kann man schon warten lassen. »Ich …« Wie zufällig streiften ihre Brüste seinen Arm – eine Berührung, die ihre Wirkung nicht verfehlte. »Ich konnte nicht«, entschuldigte er sich.
In diesem Moment krachte der erste von vierzehn Donnerschlägen durch die Nacht.
* * *
Außer
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