Der Sixtinische Himmel
Aurelios Schatten war wie mit einem Fliet in den Stein geritzt.
»Ich kann nicht mehr«, flüsterte er.
»Du bringst ein Opfer«, entgegnete Michelangelo ungerührt. Er schloss ein Auge und fixierte Aurelios brennende Schulter über die Stiftspitze hinweg. »Um nichts anderes geht es.« Je stärker Aurelios Muskeln gegen ihr eigenes Gewicht ankämpften, umso näher schien Michelangelo der Lösung zu kommen. Er ließ den Stift sinken. »Stell dir vor, du hieltest einen Vogel in der Hand, einen lebenden. Fühle die Federn, den warmen Körper.«
Aurelio versuchte es. »Und jetzt?«
»Gleich wirst du ihn töten, mit den eigenen Händen, ihn zum Opfer bringen.«
Die Vorstellung löste etwas in Aurelio aus, das er nicht hätte beschreiben können.
»Das ist es.« Michelangelos Miene hellte sich schlagartig auf. »Mitgefühl.«
Sein Stift kratzte über das Papier. Nach einer kleinen Ewigkeit löste er sich vom Skizzenblock. Aurelio wusste es, ohne einen Blick auf die Zeichnung geworfen zu haben: Michelangelo hatte die Lösung.
»Du kannst dich anziehen.«
Nein, dachte Aurelio, kann ich nicht. Mit einem Stöhnen ließ er sich auf die Seite fallen. Langsam, einen Fingerbreit nach dem anderen, streckte er die Beine von sich. So lag er vor seinem Meister. Nackt. Hingestreckt. Den warmen Stein unter sich. Michelangelo raffte seine Zeichnungen zusammen und eilte aus dem Atelier.
* * *
Am selben Abend entließ er Bastiano. Rosselli würde später davon sprechen, dass der letzte Tag der Bottega ihr traurigster gewesen sei. Nach Bastiano, so sah er es, gab es keine Bottega mehr. Aurelio und er waren die einzigen Verbliebenen – von Granacci einmal abgesehen, der jedoch die meiste Zeit auf Reisen oder in Florenz war. Ein Duo. Das konnte sich schwerlich nach einer Bottega anfühlen. Die Familie war endgültig zerbrochen.
Sie saßen um den Küchentisch. Rosselli hatte Fischsuppe gekocht. Michelangelo hatte sie nicht angerührt.
»Bastiano«, sagte er, und gerade weil er es sehr leise sagte, hörten sofort alle auf zu essen.
Bastiano blickte ihn an. »Du entlässt mich«, sagte er in einer Mischung aus Trauer und Fassungslosigkeit.
Lange Zeit herrschte Schweigen. Irgendwann schluckte Granacci den Fisch herunter, auf dem er gekaut hatte.
»Dieses Fresko ist mein Fluch«, erklärte Michelangelo. Er schob die Schüssel von sich weg. »Du weißt, wie sehr ich deine Arbeit schätze, Bastiano. Du bist ein guter Architekt und ein hervorragender Zeichner … Es muss furchtbar unbefriedigend für dich sein, dass ich es nicht einmal richtig erklären kann – aber ich muss dieses Werk alleine vollbringen.«
»Ich weiß«, antwortete Bastiano und brach zur Überraschung aller in Tränen aus.
Er versuchte nicht einmal, sie zurückzuhalten oder sein Gesicht abzuwenden. Ein Mann von fast dreißig Jahren und weinte wie ein Kind. Die Tränen sammelten sich an seiner Kinnspitze und tropften auf sein Leinenhemd, wo sie nach kurzer Zeit ein dunkles Oval bildeten. Alle anderen sahen ohnmächtig dabei zu. Aurelio konnte es seinem Zimmergenossen nachfühlen. Niemand bewunderte Michelangelos Arbeiten mehr als Bastiano. Er liebte sie mit derselben Bedingungslosigkeit, mit der man seine Eltern liebte. Oder seine Kinder. So, wie Aurelio seinen Vater geliebt hatte und von ihm geliebt worden war. Keinem hätte der Verlust von Michelangelos Gunst tiefere Wunden schlagen können.
»Verzeih mir«, bat Michelangelo.
Aurelio konnte sich nicht erinnern, dass Michelangelo jemals jemanden um Verzeihung gebeten hätte. Nicht einmal den Papst. Bastiano biss sich auf die Lippen. Granacci wandte den Blick ab und goss sich Wein nach. Schließlich stand Bastiano auf und erlöste sich selbst sowie die anderen, indem er in seine Kammer ging.
* * *
Noahs »Opfer« war um ein Vielfaches beredter und lebendiger als die »Trunkenheit«. Sie enthielt das Mehr an Lebendigkeit, das Michelangelo von sich eingefordert hatte. Entsprechend zügig schritt die Arbeit voran. Papst Julius allerdings konnte in diesem Sommer nichts schnell genug gehen. Je drohender sich die Gefahr eines französischen Feldzugs gegen Rom abzeichnete, desto stärker setzte er die Menschen unter Druck, die seinem direkten Einfluss unterstanden. Im Falle von Bramante und Raffael hatte er damit durchaus Erfolg. Die Materialien für den noch im Bau befindlichen Belvedere-Korridor beispielsweise wurden neuerdings auch nachts angeliefert. Der päpstliche Hofarchitekt ließ die frischen Ziegel im
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