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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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den Rest meines Lebens entstellen. Und Ihr, Papst Julius Caesar II., seid nicht imstande, mir mehr zuzufügen als einen Riss in der Lippe? Es war Hochmut, der aus Michelangelo sprach, und der Künstler war sich dessen bewusst. Derselbe Hochmut wie damals. Aber jetzt und hier genoss er ihn.
    »Wischt mir das weg«, sagte Julius und deutete mit der Stockspitze auf die Blutflecken zu Michelangelos Füßen. Es war ein Ringen um Autorität, doch es konnte nicht verhehlen, dass sich der Papst Michelangelos Überlegenheit gefügt hatte – dieses eine Mal wenigstens.

XXXVI
    »Ihr liebt mich nicht!«
    Vergeblich versuchte Aphrodite, ihre Erregung zu unterdrücken. Seit einer Woche kratzte Michelangelo nun mit seinen Kohle-, Kreide- und Rötelstiften in diesem Skizzenbuch herum. Inzwischen hatte sie das Gefühl, sein Stift ziehe ihr die Haut ab. Sie lieferte sich ihm aus, drehte ihr Innerstes nach außen. Von ihm jedoch kam nichts zurück als ein in sich gekehrtes Schweigen. Als ginge es um ihn, Michelangelo. Dabei sollte es doch um sie gehen!
    Es erregte sie, hatte sie vom ersten Moment an erregt. Diese Nacktheit. Das Gefühl, erkannt zu werden, zu sein, zu entstehen, die Gewissheit, tatsächlich zu existieren, eine eigene Seele zu besitzen. Sie hatte sich niemals nackter gefühlt, doch sie hatte sich auch niemals lebendiger gefühlt. Eine pulsierende Befreiung. Michelangelo würde sie nicht nur unsterblich machen, er hatte sie überhaupt erst zum Leben erweckt!
    »Ich liebe Euch, wie kein anderer Euch jemals lieben könnte«, grummelte Michelangelo unter seinem Bart hervor, »denn niemand liebt die Schönheit so wie ich.«
    * * *
    Aphrodites Verlangen, durch Michelangelo und seinen Rötelstift hindurchzufließen und auf dem Papier wieder Gestalt anzunehmen, war größer gewesen als ihre Vernunft. Also hatte sie den Bildhauer in ihr Gemach kommen lassen, obgleich der Papst im Vatikan weilte. An einem Samstag fing es an. Bramante veranstaltete im Belvedere-Palast eines seiner Bankette, bei denen er die Gäste gewohnheitsmäßig mit Julius’ Leibspeisen überhäufte: Kaviar, Krabben und Spanferkel. Selbstverständlich war auch Raffael geladen. Michelangelo selbstverständlich nicht. Er hätte all denen, die sich so gerne in ihrem eigenen Licht sonnten, zu viel Schatten gespendet. Hätte sich Julius entschlossen, die Feier vorzeitig zu verlassen, um sich der Ergebenheit seiner Kurtisane zu versichern, hätte er hundertfünfzig Schritte durch den vatikanischen Garten oder den bereits fertiggestellten Belvedere-Korridor zurücklegen müssen. Zeit genug, sich von einer der Aphrodite treu ergebenen Dienerinnen vorwarnen zu lassen.
    Bereits an diesem ersten Samstag hatte der hinter dem Teppich verborgene Aurelio Aphrodites Sehnsucht gespürt, Michelangelo nahe zu sein, sich in seinem Begehren zu spiegeln. Michelangelos Interesse an der Kurtisane dagegen war rein professioneller Natur. Er würde sie benutzen. Für ihn war sie Mittel zum Zweck – für seine, Michelangelos Statue. Die Genugtuung jedoch, in einem der Gemächer Alexanders mit dem Skizzenbuch in der Hand Julius’ nackte Kurtisane zu umkreisen, jeden Fingerbreit ihres Körpers zu erforschen, während der nichtsahnende Papst sich keine hundertfünfzig Schritte entfernt der Völlerei und dem Rausch hingab, war dem Bildhauer deutlich anzumerken. Hin und wieder, wenn er sich den Stuhl an eine neue Position rückte und sein Skizzenbuch aufschlug, befühlte er seine Lippe, dort, wo der Riss, den Julius ihm zugefügt hatte, geklafft hatte. Die Stelle war verheilt, doch Aurelio wusste, dass sie taub geblieben war.
    Wann immer Michelangelo die gefühllose Stelle seiner Lippe betastete, verzogen sich seine Mundwinkel kaum merklich zu einem Lächeln. Aphrodite hatte recht behalten: Kein Unterfangen hätte reizvoller sein können, keine Genugtuung größer, als die tägliche Demütigung unter der Kapellendecke und den erlittenen Stockschlag nächtens in einen heimlichen Sieg über Julius zu verwandeln, indem er dessen vergötterte Kurtisane in ihrer sündigen Sinnlichkeit aus dem Marmor meißelte. Rache, so lautete ein römisches Sprichwort, war ein Mahl, das kalt gegessen am besten schmeckte. Nun, Michelangelo würde seine Rache bekommen, und er würde sie kalt genießen.
    Die Statue sollte nicht nur Aphrodite, sondern auch Michelangelo unsterblich machen. Die Zeit würde über sie richten. Wie sie am Ende über alles richtete. Wer würde in hundert oder gar fünfhundert

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