Der Sixtinische Himmel
Schein von Fackeln aufmauern. Und Raffael, der ohnehin unter Julius’ ständiger Aufsicht stand, da das Fresko, an dem er gerade arbeitete, nur durch zwei Türen vom päpstlichen Schlafgemach getrennt war, durfte seinem Auftraggeber jeden Abend die noch feuchte Giornata des Tages präsentieren.
Michelangelo hingegen zeigte sich dem zunehmenden Druck des Papstes gegenüber gleichgültig. Je stärker Julius insistierte, am Fortgang der Arbeiten teilhaben zu wollen, desto stoischer bedachte Michelangelo ihn mit ausweichenden Antworten. Rosselli und Aurelio ahnten, dass das nicht ohne Folgen bleiben würde. Julius war kein Mann, der sich immer wieder aufs Neue vertrösten ließ. In ihm sammelten sich die erlittenen Respektlosigkeiten wie in einem Gefäß, und es war eine Frage der Zeit, bis die schwelende Schwüle des Sommers dieses brodelnde Gemisch zum Überlaufen bringen würde.
Was Julius bis jetzt von dem Fresko zu sehen bekommen hatte, erschöpfte sich in den Wandstreifen und Teilen der Pendentifs, die für jedermann in der Kapelle sichtbar waren, da die Planen unter den Arbeitsbühnen zu den Seitenwänden hin einen etwa sechs Fuß breiten Spalt ließen. Abgesehen von Teilen des Zacharias, der Delphischen Sibylle sowie des Propheten Joel, hatte er also nicht viel mehr als die Lünetten in Augenschein nehmen können, auf denen die Vorfahren Christi dargestellt waren.
Julius ahnte nicht, dass Michelangelo allen Grund hatte, seinem Auftraggeber den Deckenspiegel so lange wie möglich vorzuenthalten. Schließlich hatte das Fresko mit dem Entwurf, den Julius abgesegnet hatte, nicht mehr viel gemein. Nie zuvor waren derartig viele Figuren derartig nackt dargestellt worden – und schon gar nicht in der Kirche, in der die Papstwahl stattfand. Da Aurelio seinem Meister praktisch für sämtliche der jüngeren Figuren – auch der weiblichen – Modell stand, war Michelangelo seiner Besessenheit von nackten Männerkörpern inzwischen vollständig erlegen. Sogar die Söhne Noahs in der Trunkenheit hatte er ebenso nackt gemalt wie ihren Vater. Folglich durfte der Papst den Deckenspiegel erst zu Gesicht bekommen, wenn das Fresko ihn vor vollendete Tatsachen stellen würde.
Mehrmals hatte Julius seine Bewunderung und sein Erstaunen für die züchtig bekleideten Vorfahren Christi auf den Lünetten zum Ausdruck gebracht. Sie bestärkten ihn in dem Glauben, den richtigen Mann für diese herkulische Aufgabe ausgewählt zu haben. Doch auch die schmeichelndsten Worte des Papstes konnten Michelangelo nicht dazu bewegen, die Planen unter den Gerüsten abzunehmen und noch mehr von seiner Arbeit preiszugeben. Zudem hatte Julius, trotz aller Bewunderung für die Figuren auf den Lünetten, konzeptionelle Änderungswünsche.
»Sie sind in ganz alltäglichen Situationen dargestellt«, beschwerte er sich und deutete mit der Stockspitze zur Josias-Lünette empor, auf der der unbeugsame König des Alten Testaments mit einem Säugling auf dem Schoß zu sehen war. »Wie ganz gewöhnliche Menschen!«
»Es waren sicher keine gewöhnlichen Menschen«, hielt Michelangelo ihm entgegen, »doch sie hatten gewiss sehr gewöhnliche Probleme.«
»Giotto hat sie in königliche Gewänder gehüllt und ihnen Heiligenscheine aufgesetzt.«
»Die sie im wirklichen Leben kaum gehabt haben dürften.«
Das Klicken von Julius’ Stockspitze auf den Steinfliesen wurde deutlicher. »Sie waren die Vorfahren Jesu!«
»Genau so sehe ich es auch, Heiliger Vater. Sie haben nicht für sich gelebt, sondern für das, was nach ihnen kam. Sie standen im Dienst Gottes. Wie wir alle.« Er machte eine Pause, um sicherzugehen, dass Julius die Anspielung auf seine eigene Person nicht entging. »Wir sollten sie in Situationen sehen, die von Demut und Bescheidenheit zeugen.«
Julius’ Brustkorb blähte sich. »Gibt es irgendetwas, dem Ihr nicht zwangsläufig widersprecht?«
Michelangelo ließ sich einen Moment Zeit. »Heiliger Vater«, sagte er. »Ist es in Eurem Sinne, dass das Gewölbe der päpstlichen Kapelle künftig ein Fresko zieren wird, welches nirgends auf der Welt seinesgleichen hat?«
»Was soll diese Frage? Natürlich ist das in meinem Sinne.«
»Nun, dem würde ich nicht widersprechen.«
Julius’ Stock krachte auf die Fliesen. »Also«, setzte er an, und jeder wusste, welche Frage nun folgen würde. »Wie lange soll ich mich noch gedulden?«
»Wie lange wird Bramante noch für Sankt Peter benötigen?«, fragte Michelangelo zurück.
»Die Basilika? Das
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