Der Sixtinische Himmel
hasste, das Kaninchen zu sein! Es gab keine Worte, die stark genug gewesen wären, seinem Ingrimm angesichts der drohenden Schmähung Ausdruck zu verleihen.
* * *
Kaum war der vierzehnte Donnerschlag verhallt – am vierzehnten Mai hatte die Liga bei Agnadello den entscheidenden Sieg errungen –, verwandelte sich der Balkon der Engelsburg in einen Wasserfall aus unzähligen Funken, die an den Mauern herab in die Tiefe stürzten und die Burg in ein Gewebe aus lebendigem Licht hüllten. An den Ecken des Balkons schossen Leuchtfontänen in die Höhe. Kurz darauf sah man etliche Feuerschweife in den Nachthimmel steigen, die in gewaltiger Höhe explodierten und sich in bunte Funkenbälle von solch grandioser Helligkeit verwandelten, dass der gesamte Borgo bis hinauf zum Vatikan in eine Lichtglocke getaucht wurde und sich der Tiber in ein tanzendes Sternenmeer aus tausend Farben verwandelte.
Eine Weile verfolgten Margherita und Aurelio gemeinsam das Spektakel. Doch spürte er vom ersten Moment an ihre Begierde und wusste, dass sie nicht lange die Bereitschaft aufbringen würde, sie zu unterdrücken.
Sanft, aber bestimmt drückte sie sich an ihren Liebhaber. »Komm«, flüsterte sie, »ich zeig’ dir, was du letzten Dienstag versäumt hast.«
Ich weiß, was ich letzten Dienstag versäumt habe, dachte Aurelio. »Aber das Feuerwerk …«
Sie stellte sich neben ihn, nahm unauffällig seine Hand und führte sie zwischen ihre Schenkel. Ihre Wärme umfing ihn durch den Stoff ihres Kleides hindurch. »Willst du mir sagen, du ziehst dieses Feuerwerk dem meinen vor?«
»Nein, ich …« Aurelio warf einen letzten Blick zum Balkon empor. »Ich komme.«
»Was ist mit den Focaccie?«, rief Bastiano ihm nach.
Aurelio drehte sich nicht einmal um.
XXXV
Seit gut einer Stunde kniete Aurelio nackt vor seinem Meister, den Oberkörper nach hinten gedreht, die Hände von sich gestreckt. Inzwischen hatten seine Arme das Gewicht antiker Säulen angenommen. Aurelios Schultern brannten, seine Oberschenkel waren hart wie Granit, seine Knie spröde wie vertrocknetes Holz. Und dazu diese Hitze! Erst hatte die Tramontana die Stadt monatelang in ihren eisigen Klauen gehalten, anschließend war in nur zwei Wochen der Frühling wie ein eiliger Geschäftsreisender durch die Stadt gezogen, und jetzt zwängte sich die Luft plötzlich wieder heiß und schwer in die Gassen, füllte die kleinsten Ritzen und gab einen Vorgeschmack auf die stickigen, stinkenden Monate, in denen das Haupt der Welt vor sich hin gären würde und Pest und Malaria wie Wegelagerer nächtens durch die Stadtmauer schlüpften.
Der Schweiß lief Aurelio die Brust hinab und versickerte in seinem Schoß. Zu Füßen Michelangelos lag das halbe Dutzend Zeichnungen verstreut, das er bereits angefertigt hatte. Längst schon hätte Aurelio um eine Pause gebeten, doch er spürte die wachsende Anspannung Michelangelos – ein verlässliches Zeichen dafür, dass sein Meister der Lösung eines künstlerischen Problems auf der Spur war. In diesem Fall: dem Problem der dritten Szene. Noahs Opfer.
Die Trunkenheit Noahs war Michelangelo geglückt. Er hatte nicht nur die Anzahl der Personen radikal reduziert, auch für andere Aspekte der Bildgestaltung, die bei der Sintflut noch zu unbefriedigenden Resultaten geführt hatten, war er zu überzeugenden Lösungen gelangt. Dennoch konnte die Trunkenheit nur eine Station auf dem Weg zu noch größerer Meisterschaft sein. Das begriff auch Aurelio, nachdem sein Meister es ihm erklärt hatte: Anatomisch übertrafen Noah und seine Söhne alles, was Michelangelos Zeitgenossen hervorbrachten. Dennoch wirkte die Szene insgesamt statisch, wie eingefroren, als seien auf dem Bild vier Statuen zueinander arrangiert worden. Das konnte Leonardo besser. Und Raffael ebenfalls. Dessen Figuren waren biegsamer, weicher, feiner im Ausdruck. Und das durfte, das konnte nicht sein. Raffael, dieser gefallsüchtige Schmeichler, sollte sich bei der Enthüllung seiner – Michelangelos – Fresken wünschen, mit Julius’ Gemächern niemals begonnen zu haben. Und das bedeutete: Michelangelo musste es besser machen.
»Die Figuren müssen sich stärker aufeinander beziehen«, überlegte er, während er das nächste Blatt zu Boden segeln ließ. »Die Szene sollte eine Geschiche erzählen.«
Aurelio schwieg. Schon lange war er mit nichts anderem mehr beschäftigt, als seinen Schmerz zu besiegen. Die hochstehende Junisonne flutete das Atelier mit blendendem Licht.
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