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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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Jahren noch wissen, wer Papst Julius gewesen war? Die Statue allerdings würde weiterhin von der unbezwingbaren Macht Aphrodites künden – und der unerreichten Meisterschaft ihres Schöpfers.
    * * *
    »Ich gebe mich Euch hin«, fuhr Aphrodite fort, »Nacht für Nacht. Doch Euch interessieren einzig Eure Skizzen!«
    Das Leben, das pulsierende Leben, es wollte aus ihr heraus, um jeden Preis, seine eigenen Grenzen sprengen.
    Durch seinen winzigen Sehschlitz verfolgte Aurelio, wie sein Meister mit dem kleinen Finger die Wölbung ihrer Hüfte nachzog, die er soeben skizziert hatte.
    »Ich habe bereits mehr von Eurer Schönheit gekostet, als Seine Heiligkeit jemals könnte«, stellte er fest. »Und dabei habe ich mit der Arbeit am Marmor noch nicht einmal begonnen.«
    Aurelio hielt den Atem an. Auch seine Erregung war kaum noch steigerbar. Der Jaguar patrouillierte vor dem Wandteppich auf und ab wie eine Palastwache.
    »Ihr sagtet, niemand liebe die Schönheit so wie Ihr.«
    Michelangelo hatte Aphrodite ihre Position ändern lassen: das Standbein leicht gebeugt, das Spielbein ausgestellt, die rechte Hand auf der linken Brust, die linke Hand im Nacken. Keuschheit gepaart mit Sünde. Die Wirkung war derart, dass Aurelio um Haaresbreite in den Teppich gestolpert wäre. Jede andere Frau hätte instinktiv ihren Schoß bedeckt, Aphrodite jedoch verbarg ihr Herz.
    Michelangelo war ganz in seine Zeichnung vertieft, er hörte sie kaum. »So ist es«, murmelte er.
    »Und warum ist das so? Weil Ihr selbst so unansehnlich seid?«
    Sein Stift hielt inne. Nur das leise Pfeifen seiner Nase verriet den inneren Aufruhr. Er blickte von seinem Buch auf und studierte Aphrodites linkes Schlüsselbein, über dem sich katzengleich ihre Haut spannte. Dann fuhr er mit seiner Arbeit fort. Aphrodite hatte seine verwundbarste Stelle getroffen. Und sie wusste es.
    * * *
    Vier Abende lang hatte Michelangelo unter größten Risiken seine Studien fortgesetzt, Aphrodites Körper belauert und nach der einen Position gesucht, die seinen gesamten Empfindungskosmos einfangen würde, als Aurelio eine Veränderung verspürt hatte. Etwas war nicht so wie an den Abenden zuvor. Aphrodite. Sie bewegte sich nicht wie sonst, stand nicht wie sonst, sprach nicht wie sonst. Sie war nicht bei sich, heute.
    »Ihr seid abgelenkt«, stellte Michelangelo fest.
    »Es ist wahr«, antwortete Aphrodite. »Es ist … Ich weiß nicht.« Sie klang hilfesuchend, wie ein Mädchen.
    Es erregte stets Michelangelos Unmut, wenn sie kokettierte – wenn sie versuchte, Spielchen zu spielen. Er war kein Mann für Spielchen. Dafür war Julius zuständig.
    »Geht umher«, sagte er unwirsch, »lockert Eure Glieder, denkt an … Stellt Euch das Paradies vor. Stellt Euch vor, Ihr lebtet in Freiheit.«
    Mit geschmeidigen Bewegungen durchquerte ihr biegsamer Körper das Gemach und entglitt Aurelios Blickfeld.
    »Wie ist das«, ertönte ihre Stimme aus der Ecke neben dem Kamin, »ein Leben in Freiheit?«
    Michelangelo saß in dem lederbespannten Lehnstuhl und studierte seine Skizzen. »Woher soll ich das wissen? Mein Leben ist so unfrei wie Eures.«
    Lautlos verließ Aphrodite die Ecke und glitt direkt vor Aurelios Auge am Wandbehang vorbei. Dabei zog sie eine träge Hand hinter sich her, mit der sie über den Teppich strich. Ein knisterndes Rauschen zog von einem Ohr Aurelios zum anderen.
    »Glaubt Ihr wirklich?«, fragte sie.
    Michelangelo ließ ihre Frage unbeantwortet.
    In diesem Moment bemerkte Aurelio, dass auch mit dem Teppich etwas anders war. Unsicher führte er seine Hand an den Riss, den er mit seinem Messer in den Wandbehang geritzt hatte. Er war so schmal gewesen, dass Aurelio nicht einmal seinen kleinen Finger hätte hindurchzwängen können. Jedenfalls hatte er ihn so in Erinnerung. Jetzt allerdings schien er ihm vergrößert.
    »Ihr und ich«, kam Aphrodites Stimme aus der gegenüberliegenden Zimmerecke, »wir sind seelenverwandt.«
    Auch dieser Satz blieb ohne Erwiderung.
    Aurelio versuchte noch, sich den vergrößerten Riss zu erklären, als Aphrodite aus der Zimmerecke zurückkehrte, sich mit leicht gespreizten Beinen vor den Teppich stellte und rechts und links seines Sehschlitzes mit den flachen Händen über das Gewebe strich. Aurelios gesamter Körper schien aus nichts anderem mehr zu bestehen als panisch kreisenden Körpersäften.
    »Was für eine Pracht!« Aphrodite seufzte auf. »Diese Farben! Alles, was die Natur hervorzubringen imstande ist.« Mit ihrer ganzen

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