Der Sixtinische Himmel
Aufgrund seiner geringen Körpergröße konnte Michelangelo nicht sehen, wer sich im Sancta Sanctorum eingefunden hatte, Aurelio jedoch gab ihm die Namen weiter, die ihm bekannt waren. Im Grunde waren alle anwesend, die in Rom über Macht und Einfluss verfügten oder ein hohes Kirchenamt innehatten. Da Viterbo, de’ Grassi, extra für diesen Anlass angereiste Bischöfe und Kardinäle, Sangallo, einfach alle. Im Schatten des Balkons glaubte Aurelio, einen weißen Schleier zu erahnen: Aphrodite. Die Frau, die ihm mehr Nächte geraubt und Gedanken gestohlen hatte, als irgendwer sonst es vermocht hätte. Die noch immer seinen Leib in eine brennende Fackel und seine Seele in schwarze Galle verwandelte. Aurelio musste sich auf die Zunge beißen, um nicht laut ihren Namen zu rufen.
Unterhalb des Papstthrons und nur eine Armeslänge von Julius entfernt, hatten Bramante und Raffael Platz genommen, die, anders als Michelangelo, zur Capella Papalis gehörten und Zugang zum abgetrennten Bereich hatten. Michelangelos Widersacher hatten Ehrenplätze erhalten: der Maler, der nach Rom gekommen war, um zum größten lebenden Künstler aufzusteigen, und der Baumeister, der mit dem Papst die Wette eingegangen war, dass Michelangelo dem Gewölbe der Sistina nicht gewachsen sein würde.
Sorgenvoll blickte Michelangelo zur Decke empor. Dort, hinter den Planen, wartete sein Schicksal darauf, enthüllt zu werden. Der Papst hatte verfügt, das Gerüst abzubauen, die Planen jedoch aufgespannt zu lassen und so zu präparieren, dass sie sich durch den Zug an einer Kordel einseitig von der Wand lösen und gleichzeitig über die Köpfe der Anwesenden hinwegschweben würden, um sich wie Vorhänge auf die Nordwand zu legen und den Blick auf das Fresko freizugeben.
Die gesamte Messe über drückte sich Michelangelo in der Nähe des Eingangs herum und versuchte, in der Menge zu verschwinden. Keines der Worte, die da Viterbo vortrug, erreichte sein Ohr. Im Falle des Falles wollte er zur sofortigen Flucht bereit sein. Dafür hatte er Vorkehrungen getroffen. Sollte das Fresko den Zorn des Papstes erregen und Michelangelo augenblicklich die Stadt verlassen müssen, wartete an der Piazza Rusticucci ein gemietetes Pferd auf ihn, ausgestattet mit allem, was er für einen Zweitagesritt nach Florenz benötigte. Bevor der Befehl, ihn aufzuhalten, die Wachen an den Stadttoren erreicht hätte, würde er Rom bereits für immer verlassen haben.
Als es endlich so weit war, die Stimmen des päpstlichen Chores verklungen waren und Julius sich von seinem Thron erhob, um nach der mit Goldfäden durchwirkten Quaste zu greifen, die neben ihm von der Decke hing, verpasste Michelangelo nur deshalb nicht den Moment der Enthüllung, weil Aurelio ihn darauf aufmerksam machte, indem er ihn in die Seite stieß. Sichtlich erregt, murmelte Julius einen lateinischen Segen, hielt eine kurze Ansprache auf Italienisch und riss dann unvermittelt und hektisch an der Schnur.
Für einen ewig scheinenden Moment war nichts zu hören außer dem trägen Flattern der Stoffbahnen, die langsam von Falten durchzogen wurden, um anschließend herabzusinken. Das in Form großer Säulen einfallende Sonnenlicht füllte sich mit wirbelndem Staub, Putzkrümel rieselten knisternd auf den Steinboden. Mit einem leisen Flüstern schmiegten sich die Stoffbahnen an die Nordwand der Kapelle. Zwei Dinge nahm Aurelio wahr: dass Julius in der Aufregung vergaß, die Quaste loszulassen, und dass die verschleierte Aphrodite an das Geländer des Balkons trat. Dann war niemand mehr in der Kapelle, der nicht seinen Kopf in den Nacken gelegt hätte. Eine Taube, von der keiner wusste, wie sie den Weg in die Sistina gefunden hatte, flog unter dem Gewölbe umher und ließ sich schließlich auf einem der aus dem Mauerwerk ragenden Holzstümpfe nieder.
Dann trat eine absolute Stille ein.
In diesem Moment war es Michelangelo völlig gleichgültig, was der Rest der Welt von seinem Werk dachte. Sollte de’ Grassi ihn auf ewig dafür verdammen, Julius ihn in die Engelsburg werfen lassen, Raffael ihn auslachen. Es war, was er drei Jahre lang ersehnt hatte. Mehr als das, die Wirkung war stärker, als er zu hoffen gewagt hatte. Alles, was bis dahin nur auf dem Papier existiert hatte – jetzt lebte es, litt es, sprang den Betrachter förmlich an. Die künstliche geschaffene Architektur war perfekt proportioniert und in ihrer gestalterischen Wirkung absolut überzeugend. Die Sibyllen und Propheten waren von einer Pracht
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