Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
Vom Netzwerk:
und einer Tiefe, die niemals zuvor auch nur in Ansätzen erreicht worden war. Die nackten, überlebensgroßen Ignudi erhöhten den Menschen zu dem, was er hätte sein sollen: eine Lobpreisung Gottes, des allmächtigen Schöpfers. Zugegeben, die Sintflut wäre für alle Zeiten übervölkert, die Haltung der Eva uninspiriert. Doch das, worauf es Michelangelo ankam – die alles überwältigende schöpferische Kraft Gottes –, hatte er einzufangen verstanden.
    Dem allgemeinen Atemanhalten folgte ein Raunen, dann, von der Mitte des Raumes sich ausbreitend, erste Begeisterungsrufe, die schließlich die Absperrung zum Sancta Sanctorum übersprangen, worauf die gesamte Kapelle in Jubelrufe ausbrach. Der Papst sank ungläubig auf seinen Stuhl und ließ endlich die Quaste los. Aphrodite führte ihre behandschuhten Hände zum Mund. De’ Grassi zupfte nervös an seinem Kragen. Sein Kopf war puterrot angelaufen. Raffael saß wie versteinert und konnte seinen Blick nicht vom Gewölbe nehmen.
    Michelangelo hatte das Bedürfnis, die Kapelle auf der Stelle zu verlassen. Die vielen Menschen, der Jubel, die Blicke … Das alles ertrug er nicht. Er brauchte jetzt einen stillen Moment mit sich und seinem Schöpfer, wollte Gott dafür danken, dass er ihm die Kraft und das Vermögen gegeben hatte, so weit zu kommen, sich als Künstler so weit entwickeln zu dürfen. Der Bildhauer hatte sich von der Wirkung seines Freskos überzeugt, das er von nun an jeden Tag zu Gesicht bekommen würde. Und er hatte die Begeisterung der Anwesenden erlebt, die Ergriffenheit in ihren Gesichtern gesehen. Mehr brauchte er nicht.
    Er versuchte, sich unerkannt einen Weg zum Ausgang zu bahnen. Bevor er jedoch die rettende Tür erreichte, ließ ihn etwas innehalten. Eine warnende Stille hatte sich über die Besucher gebreitet. Verstohlen blickte er sich um. Wie von Geisterhand teilte sich die Menschenmenge und bildete ein Spalier, das vom Sancta Sanctorum direkt zu ihm hinüberführte. »Bitte Herr, nicht!«, flüsterte Michelangelo kaum hörbar. Verschwommen nahm er wahr, wie sich am anderen Ende der Kapelle der Papst von seinem Thron erhob und sich einen Weg durch die Reihen der vor ihm Sitzenden bahnte. Michelangelo wurde unterdessen von einem Schwindel erfasst. Er tastete nach einem Halt und fand die Wand, kühl und unverrückbar. Dann gab er sich einen Ruck und ging dem Papst entgegen.
    Im Zentrum der Kapelle trafen sie aufeinander. Michelangelo verbeugte sich, setzte ein Knie auf den Boden und küsste den Ring an Julius’ Hand, in dem der Holzsplitter des Christuskreuzes eingearbeitet war. Er hörte den Flügelschlag der Taube oben im Gewölbe und sah Julius’ gefürchteten Stock, dessen vergoldete Spitze zwei Handbreit vor seinem Fuß über das Mosaik kratzte.
    Der Papst räusperte sich. »Dies ist weder, was wir von Euch verlangten, noch ist es das, was Ihr uns als Entwurf vorlegtet …«
    In das folgende Schweigen hinein hob Michelangelo den Kopf. Sollten sich Julius’ schmale Lippen tatsächlich zu einem Lächeln kräuseln? Der Papst bedeutete ihm, sich zu erheben.
    »Maestro Buonarroti!« Julius ergriff Michelangelo an der Schulter. Seine Stimme drang bis in den letzten Winkel der Kapelle. Unter den Hunderten Schaulustiger war keiner, der nicht jedes Wort verstanden hätte. »Diese Stadt – ganz Italien – ist Euch zu großem Dank verpflichtet.«
    Wie er im anschließenden Trubel den Ausgang erreicht und den Vatikan verlassen hatte, wusste Michelangelo später nicht zu sagen. Erst nachdem er sich im blendenden Mittagslicht auf einem der Marmorblöcke niedergelassen hatte, die noch immer auf dem Petersplatz lagen, setzte seine Wahrnehmung wieder ein. Die Haare klebten ihm auf der Stirn. Der Schweiß war ihm sogar die Beine hinabgelaufen. Seine Füße rutschten in den neuen Kuhmaulschuhen hin und her. Erleichtert blickte er zu Aurelio auf, der vor ihm stand und ihn gegen die Sonne abschirmte. Das Gesicht seines Gehilfen sagte ihm, dass er sich die vergangenen Stunden nicht nur eingebildet hatte. Innerhalb weniger Augenblicke hatten sie den gesamten Lohn für drei Jahre harte Arbeit erhalten.
    »Maestro Buonarroti!«
    Michelangelo meinte, die Stimme zu kennen, doch ihm fehlte das Gesicht dazu. Ein warnendes Gefühl stieg in ihm auf. Er fuhr herum.
    Raffael. Wie immer war er umringt von einem Tross aus Bewunderern, Schülern und aufwendig frisierten jungen Frauen, die darauf hofften, das etwas vom Glanz seines Ruhms an ihren Kleidern haften

Weitere Kostenlose Bücher