Der Sixtinische Himmel
eine Aufgabe für ihn gefunden. Tommaso hätte ihm das niemals geglaubt.
»Doch, Maestro.«
* * *
Seine Schrittgeschwindigkeit hatte sich halbiert. Er ging auch nicht mehr mit der nach vorne gebeugten Haltung und den auf dem Rücken verschränkten Händen, sondern hielt den Körper gerade und den Kopf erhoben. Seine Hände gestikulierten, während er Aurelio die Stadt erklärte. Dabei krächzte er wie ein Rabe.
»Du musst entschuldigen«, erklärte er, »mein Hals ist es nicht gewohnt, viel zu reden.«
Rom war tatsächlich das, was Aurelio sich darunter vorgestellt hatte. Die Ewige Stadt war groß und erhaben, strahlte wie eine Verheißung, glänzte von Marmor und dem Geschmeide junger Frauen. Das Getrappel edler Pferde, die durch die Straßen stolzierten, als seien ihre Reiter lediglich das Zierrat, hallte von den Wänden wider. Aurelio sah hermelinbesetzte Samtärmel und geschlossene Kutschen mit Goldbeschlägen, festungsähnliche Häuser, mächtige Tore und Kirchen, deren bloßer Anblick ihn demütig innehalten ließ. All das war Rom. Und das Gegenteil davon. Allem Schönen in dieser Stadt – ganz gleich ob Mensch oder Tier, Kutsche oder Haus – war wie selbstverständlich das Gegenteil zur Seite gestellt. Als sollte dadurch das Schöne noch stärker zur Geltung gebracht werden und das Hässliche noch hässlicher erscheinen. Kein Patrizier, der nicht ein halbes Dutzend zerlumpter Bettler anzog, keine Marmorfassade, der nicht eine Ruine gegenüberstand. Die kleinen Straßen und Gassen waren von Müll und Exkrementen jeder Art übersät. Alles, was nicht mehr von Nutzen war, wurde kurzerhand aus dem Fenster geworfen oder vor die Tür gekehrt. In dieser Stadt war sich jeder selbst der Nächste. Angesichts dieser Übermacht von Eindrücken kam sich Aurelio vor, als sei er in der letzten Nacht mit Margherita erst geboren worden. Neunzehn Jahre lang hatte er im Dunkel gelebt, um jetzt, endlich, das Licht der Welt zu erblicken.
Als sie an der Kirche Santo Spirito in Sassia vorübergingen und Michelangelo ihm erläuterte, dass die zweigeschossige Fassade antike und moderne Bauformen zu einer harmonischen Lösung vereine, wurde Aurelio unvermittelt von einem süßen Duft umhüllt, der Michelangelos Worte vorübergehend verschleierte. Aurelio sah sich um. Drei lachende Frauen fuhren in einem offenen Wagen an ihnen vorbei, von denen ihm eine ihre Hand entgegenstreckte. Wenige Schritte später, Aurelio hatte den betörenden Duft noch in der Nase, schlug ihnen aus dem an die Kirche grenzenden Spital ein Geruch von Fäulnis, Verwesung, Eiter und Gedärm entgegen. Aurelio musste einen Würgreiz niederringen.
Als sie die Porta Santo Spirito durchschritten, glaubte Aurelio einen Moment lang, Michelangelo führe ihn aus der Stadt heraus. Die neuerbaute Via Lungara, eine Straße von der Breite der Via Flaminia, zog sich schnurgerade am Tiber entlang. Michelangelo brabbelte etwas in seinen Bart, aus dem Aurelio den Namen Bramante herauszuhören meinte. Zur Rechten wurde die Straße von einem Mäuerchen begrenzt, über dem blühende Apfelbäume aufragten, und auch die dem Ufer zugewandte Seite war nur spärlich bebaut.
»Wohin gehen wir?«, wagte Aurelio zu fragen.
»Nach Trastevere, dir ein Bett besorgen. Oder hattest du vor, auf dem Boden zu schlafen?«
Sie waren etwa eine Meile gegangen. Die Porta Settimiana, das Tor nach Trastevere, war bereits deutlich auszumachen, als sie an einem imposanten Palazzo vorbeikamen. Diesem stand eine noch beeindruckendere, frisch erbaute Villa gegenüber, die sich hinter Palmen, Pinien und einer hohen Mauer verbarg. Die helle Fassade leuchtete in der Nachmittagssonne, und das Grundstückstor war von Wachposten flankiert. Für einen Augenblick gab die Mauer den Blick auf einen weißen Marmorspringbrunnen frei, dessen Wasser wie eine Fontäne aus flüssigem Glas in den Himmel schoss.
»Was ist das?«, fragte Aurelio.
»Chigis Villa«, murrte Michelangelo und ging weiter.
» Der Chigi?!«, rief Aurelio.
»Wenn du mit ›der‹ meinst, dass ihm eine Bank gehört, dann ja. Wieso – kennst du ihn?«
»Nun, ich weiß, wer er ist, weil …« Aurelio erinnerte sich an die Geschichte, die ihm Margherita erzählt hatte – dass die Kurtisane Imperia und der Bankier Chigi das berühmteste Paar der Stadt seien. Beim Anblick dieser Villa glaubte er es sofort. »Weil ihm eben diese Bank gehört, und weil er … sehr reich ist, nicht wahr?«
Michelangelo blieb stehen, wie immer ohne
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