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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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ihn kurz zuvor noch zum Teufel jagen wollte, bot ihm jetzt einen Platz in seinem Haus an. Vorsichtig blickte er sich in der Werkstatt um. Das Licht fiel in Form dicker, schräger, von glänzendem Staub erfüllter Balken auf den Boden. Hier würde er wohnen, zusammen mit dem größten Bildhauer Italiens. Vorausgesetzt, der würde eine Aufgabe für ihn finden.
    »Tritt in die Sonne«, forderte Michelangelo seinen Begleiter auf und zog einen Wirbel aus leuchtendem Staub durch den Lichtbalken.
    Aurelio trat ins Licht.
    Der Bildhauer erstarrte. Zum ersten Mal schien er Aurelios wahres Antlitz zu erkennen. Wie eine dunkle Ahnung, die sich erfüllte. Beschämt schlug Aurelio die Augen nieder. Michelangelos zischender Atem näherte sich, zwei braune, abgewetzte Halbschuhe schoben sich in Aurelios Sichtfeld. »Kopf hoch!«
    Im Licht funkelten Michelangelos Augen wie Bernstein. Als er seine Finger an Aurelios Kinn legte, um es ins Profil zu drehen, stockte dem Bauernsohn der Atem. Die Gesichter der beiden Männer trennten nicht mehr als drei Handbreit. Es war Aurelio unmöglich, Michelangelos Blick zu deuten: Verwunderung? Erstaunen? Angst etwa? Nein, das konnte nicht sein.
    Der Bildhauer trat in den Halbschatten zurück. »Zieh dich aus.«
    Mit pochendem Herzen antwortete Aurelio: »Ich verstehe nicht.«
    »Was gibt es daran nicht zu verstehen?«
    Eines nach dem anderen legte Aurelio seine Kleidungsstücke neben sich auf den Boden. Michelangelo zog sich unterdessen in eine Ecke des Raumes zurück und schwieg.
    Als Aurelio vollständig entkleidet war, sagte der Bildhauer: »Dreh den Kopf nach rechts.«
    Aurelio drehte den Kopf.
    »Nach rechts, habe ich gesagt … nicht so weit … das Kinn etwas höher.« An seiner Stimme erkannte Aurelio, dass Michelangelo wieder aus der Ecke getreten war und näher kam. »Und jetzt dreh dich um die eigene Achse. Langsam! Halt. Ein Stück zurück. Halt. Nimm das linke Bein als Standbein und öffne das rechte. Nicht so weit, Grundgütiger! Willst du dich vierteilen? Gut. Lass die Hüfte etwas tiefer einsinken. Gut … So ist es gut.«
    Nach diesen Worten war sehr lange Zeit nur noch Michelangelos Schnaufen zu hören. Aurelio verharrte ebenso reglos wie der Künstler. Nicht einmal letzte Nacht, als er mit Margherita im Stall gelegen hatte, war er sich so nackt vorgekommen. Michelangelo zischte etwas. Kurz darauf stürmte er aus dem Zimmer.
    Von irgendwo aus dem Haus erscholl seine Stimme: »In Gottes Namen: Zieh dich an!«
    * * *
    Lange blieb der Künstler in seiner Kammer im ersten Stock verschwunden. Aurelio, der ratlos im Atelier wartete, wagte nicht, nach ihm zu sehen. Er zog sich wieder an und befühlte die Marmorsäule, die noch nicht zu erkennen gab, was in ihr verborgen war. Der Stein war nicht so kalt, wie Aurelio es erwartet hatte. Da, wo die Sonne ihn berührte, schien er von Leben erfüllt zu sein und leuchtete von innen heraus. Mit geschlossenen Augen tastete Aurelio nach den warmen Stellen. Was für ein wundervolles Material!
    »Lass uns in die Küche gehen.«
    Aurelio öffnete die Augen. Michelangelo wandelte in seinem Haus offenbar wie ein Geist umher.
    Die Küche enthielt nur das Notwendigste. An den Wänden stachen die Ziegel aus dem Putz, die Luft schmeckte nach Stein und feuchtem Gips. Sie nahmen einander gegenüber am Tisch Platz. Michelangelo zog mit dem linken Fuß die Risse der gesprungenen Steinfliesen nach, während seine Finger auf die Tischplatte drückten. Aurelio tat alles, um ihn nicht in seinen Überlegungen zu stören.
    »Ich zahle dir zwei Dukaten im Monat«, sagte Michelangelo, den Blick aus dem Fenster gerichtet. Hinter den gedrungen wirkenden Häusern auf der anderen Hofseite ragte der Passetto auf, die Mauer, die den Borgo durchzog und in der sich ein Gang befand, durch den sich die Päpste bei Gefahr vom Vatikan in die sichere Engelsburg retten konnten. »Du wirst mir Modell stehen, die Werkstatt in Ordnung halten, mir assistieren. Schlafen kannst du in einer der beiden Kammern. Such dir den besten Platz aus. Es werden noch mehr kommen. Ohne wenigstens vier Gehilfen kann ich die Sistina nicht in Angriff nehmen. Was ist? Ist dir nicht wohl?«
    Zwei Dukaten. Im Monat! Aurelio schämte sich für seinen künftigen Reichtum, bevor er auch nur den ersten Grosso erhalten hatte. Noch vor der Ernte würde er seinem Bruder genug Geld für einen zweiten Ochsen schicken können. Und er würde hier wohnen, unter einem Dach mit Michelangelo. Sein Lehrmeister hatte

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